Schuechtern
Erwartungen, anderen ungeschriebenen Regeln folgen, und sie variieren nochmals mit meinem Alter und meinem Geschlecht. Nirgends mehr kann ich mich vollkommen sicher fühlen, die Situationen und Anforderungen ändern sich schneller als das Wetter.» Wir mögen zwar äußerlich frei sein, sind aber gerade deshalb innerlich befangen.
Kapitalismus Mit der Liberalisierung des gesellschaftlichen Lebens war nicht zuletzt auch eine zunehmende Liberalisierung der Wirtschaft verbunden. 1776, im selben Jahr, in dem sich die USA für unabhängig erklärten und damit den Grundstein für den ersten modernen demokratischen Staat der Welt legten, erschien auch Der Wohlstand der Nationen , das Hauptwerk des Ökonomen Adam Smith: Es stellt die vielleicht wichtigste theoretische Grundlage für die Entstehung der freien Marktwirtschaft dar. Mit dem darauf folgenden Siegeszug des Kapitalismus wurde der letzte und möglicherweise wichtigste Nagel in das Prokrustesbett der modernen Schüchternheit eingeschlagen. (Es ist zwar nicht das Thema dieses Buchs, soll aber auch nicht verschwiegen werden, dass andere politische Systeme über vielleicht weniger subtile, deshalb aber nicht weniger furchteinflößende Mittel und Wege verfügen, um ihre Subjekte einzuschüchtern.)
Folgt man dem Soziologen Max Weber, so ist der ‹Geist des Kapitalismus› maßgeblich aus dem asketischen Protestantismus angelsächsischer Prägung hervorgegangen. So wie der asketische Protestant sich seiner Erwähltheit niemals sicher sein kann und daher andauernd seinen Gnadenstand überprüfen muss (ein Gefühl, das mir aus meiner Zeit in oben besungenem Knabenchor weidlich bekannt ist), lebt auch der Mensch im Kapitalismus Weber zufolge in einem Zustand «beständiger Selbst kontrolle ». Unablässig muss er über seine Ausgaben und Einnahmen Buch führen, ständig muss er sich fragen, was er noch besser machen könnte, was seine Konkurrenten ihm womöglich voraus haben, und ob sie ihn vielleicht in ebendiesem Moment auf dem Weg ins finanzielle Himmelreich überflügeln. Man darf davon ausgehen, dass die furchtsame, kritische Selbstbeobachtung, wie sie der Schüchternheit zugrunde liegt, durch den kapitalistischen Imperativ maßgeblich gefördert wird.
Darüber hinaus erfordert das kapitalistische Wirtschaftssystem von seinen Subjekten, dass sie sich ständig selbst darstellen: dass sie sich also im doppelten Wortsinn ‹bewerben›, ‹vermarkten›, ‹ins rechte Licht setzen›, dort möglichst lange und aufreizend verharren und sich letztendlich ‹verkaufen›. All dies sind, wie erwähnt, Dinge, die Schüchternen eher schwer fallen − ja Anforderungen, die ein schüchternes Verhalten erst als Abweichung von einem gesellschaftlichen Idealbild erkennbar machen und damit hervorbringen. Kein Wunder, dass die ersten deutschsprachigen Schüchternheits-Ratgeber zu einer Zeit veröffentlicht wurden, als der Monopolkapitalismus gerade seinen Höhepunkt erreichte und die weitgehend unangefochtene Wirtschaftsform in der westlichen Welt darstellte.
Während das 1907 erschienene Buch Schüchternheit, nervöse Angst = u. Furchtzustände sowie andere seelische Leiden und ihre dauernde Heilung noch vor allem individualpsychologische Gründe sowie Fehler in der Erziehung und Lebensführung für die Entstehung der Schüchternheit verantwortlich macht, wagt Die erfolgreiche Bekämpfung der Schüchternheit aus dem Jahr 1911 bereits eine gesamtgesellschaftliche Analyse. Als Ursache für diese «stark grassierende Krankheit unserer Zeit», die einen geradezu «epidemischen, um nicht zu sagen infektiösen Charakter» habe, macht der Autor nicht zuletzt den «politische[n] und sozialen[n] Druck von oben und unten», den «heutige[n] wirtschaftliche[n] und gesellschaftliche[n] Kampf ums Dasein» aus: «Der Schlachtruf im Erwerbskampf lautet in der Zeit der Streber, Dränger und Schieber bekanntlich: […] Pack dich, daß ich mich an deine Stelle setze. Rücksichtslosigkeit, festes Auftreten, das nicht selten bis zum Niedertreten des anderen geht, ist leider das Kennzeichen des sozialen Kampfes. Das ist hart, aber man muß die Dinge eben so nehmen wie sie sind.» In etwas weniger martialische sozialdarwinistische Worte gefasst, könnte dieser Befund durchaus auch auf unsere heutige spätkapitalistische Gesellschaft zutreffen.
Tatsächlich war der Drang und Zwang zur öffentlichen Selbstdarstellung vermutlich noch nie so groß wie heute. Wir werden mehr und mehr, um es
Weitere Kostenlose Bücher