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Schuechtern

Schuechtern

Titel: Schuechtern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Werner
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schämt sich Scheler zufolge stets dann, wenn er sich intellektuell in ‹höheren Sphären› bewegt und dann urplötzlich gewahr wird, dass sein Geist leider doch «an eine räumlich und zeitlich eng begrenzte, tierartige Existenz mit der ganzen Menge ihrer Bedürftigkeiten» gekettet ist. «Nur weil zum Wesen des Menschen ein Leib gehört, kann er in die Lage kommen, sich schämen zu müssen », schreibt Scheler; «und nur weil er sein geistiges Personsein als wesensunabhängig von einem solchen ‹Leibe› erlebt, […] ist es möglich, daß er in die Lage kommt, sich schämen zu können .» Ich nehme an, dass es diese aus der jüdisch-christlichen Tradition stammende, tief in die westliche Körperwahrnehmung eingeschriebene Leibesscham ist, die auch dem heutigen Schüchternen noch zu schaffen macht, die ihn von Freibadbesuchen abhält und dazu bringt, auch nach Jahren der Ehe vor dem Sex schnell das Licht auszumachen.
    Allerdings wäre es falsch und allzu wohlfeil, die gesamte Schuld für die Entstehung der modernen Schüchternheit auf das Christentum abzuwälzen (erleichtert sehe ich aus dem Winkel meines geistigen Auges, dass Agentin Babajaga ihren erhobenen Zeigefinger wieder sinken gelassen hat und mir beipflichtend zunickt). Wenigstens fünf weitere mentalitäts- und sozialgeschichtliche Umwälzungen mögen zur Genese der modernen Schüchternheit beigetragen haben.
    Ich        Wie wir gesehen haben, kann ein Kind erst dann Gefühle der Schüchternheit entwickeln, wenn es sich selbst als eigenständige Person wahrnimmt, wenn es sein Ich also in gewissem Maße objektivieren und sich in andere und deren Blickwinkel hineinversetzen kann. «Wenn die Betonung des Ichs die eigentliche Voraussetzung alles Beschämtseins ist, so bedarf es dazu eines Fürsichseins, einer Selbständigkeit dieses Ichs», schreibt Georg Simmel. «Nur das ganz selbständige, für sich verantwortliche Ich gibt den Rahmen ab, innerhalb dessen […] die Betonung und die Herabsetzung seiner selbst in jene charakteristische Reibung miteinander treten können.»
    Was nun für die individuelle ontogenetische Entwicklung gilt, das gilt mutmaßlich auch für größere mentalitätsgeschichtliche Prozesse − namentlich für jene Bewegung, die wir als Phylogenese des modernen Subjekts bezeichnen könnten. Dem durchschnittlichen Menschen des Mittelalters war jenes starke Ich-Gefühl, das wir als aufgeklärte Bürger moderner demokratischer Staaten kennen und kultivieren, nämlich vermutlich noch sehr fremd: Er verstand sich weniger als abgeschlossenes Ganzes, als autonomes Individuum, denn als bloßer Teil eines Ganzen, als «Durchzugsgebiet kosmischer Flutungen» (um eine Formulierung des Literaturwissenschaftlers Albrecht Koschorke zu verwenden), das nicht oder nur undeutlich von der Masse der ihn umwogenden Wesenheiten geschieden war.
    Jene Schamvermeidungsängste und sozialen Hemmungen, die wir als Schüchternheit bezeichnen, waren für einen vormodernen Menschen daher vermutlich nur schwer vorstellbar: Wer noch über kein Selbst verfügt, kann sich seiner selbst auch nicht schämen. «[E]rst die konzentrierte Beschäftigung mit jenem Ich, die in der Frühen Neuzeit begann», schreibt Ute Frevert, «[machte] den ‹anderen› zum erkennbaren Problem.» Erst als der Mensch begann, sich klar von seiner Umwelt abzugrenzen, konnte er sich auch in dem Gedanken verbeißen, dass er von seiner Umwelt kritisch beäugt und beurteilt werden könnte. Die psychische Befähigung, sein Selbst derart in den Mittelpunkt des eigenen Interesses zu rücken und dann zu erniedrigen, wie der Schüchterne das tut, setzt einen enormen Glauben an die Bedeutung des Ichs und der eigenen Individualität voraus, die vor der Renaissance in dieser Intensität kaum denkbar gewesen wäre. Die Schüchternheit wäre mithin eine Nebenwirkung der Entwicklung des modernen Subjekts.
    Zivilisation        Ich gehe gern Bergsteigen und kann daher aus eigener Erfahrung sagen: Ich habe zwar allergrößte Hemmungen, mich im sicheren Flachland bei einem Fremden nach dem Weg zu erkundigen, ihn nach der Uhrzeit zu fragen oder sonstwie um Hilfe zu bitten. Als ich aber einmal in den Stubaier Alpen − glücklicherweise nur im Rahmen eines Gletscherkurses − am Ende eines Seils in einer vereisten Schlucht baumelte, hatte ich keinerlei Hemmungen, mir von anderen helfen zu lassen; und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich, wenn ich tatsächlich einmal in Bergnot geraten sollte, so

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