Schuechtern
Jahrhunderts immer mehr in Frage gestellt. Die ständisch organisierte Gesellschaft öffnete sich zunehmend und differenzierte sich funktional aus, es wurde also möglich, die einem durch Gott beziehungsweise die soziale Herkunft zugewiesene Stellung in der Welt zu verlassen und auf der gesellschaftlichen Himmelsleiter nach oben zu klettern. Dadurch wurden für den sozialen Aufsteiger allerdings auch gesellschaftliche Sphären erreichbar, deren Verhaltensnormen und Codes ihm nicht vertraut waren und wo die Gefahr, sich ‹blöde› zu benehmen oder ‹eingeschüchtert› zu fühlen, stetig zunahm. «Als blöde erscheint und begreift sich das Individuum in jenem Prozeß, der es aus dem Gehäuse heraustreten läßt, als das die Ordnungen der alten Gesellschaft zu denken waren», schreibt Stanitzek. «Blödigkeit […] bezeichnet in der Folge die unsichere Überreflexion des mit den ungewissen Chancen und unwägbaren Risiken einer Herkunft und Zukunft entzweienden Moderne konfrontierten einzelnen.»
Ein schüchtern-blödes Verhalten wurde zum Kennzeichen des bürgerlichen Individuums in der Übergangsgesellschaft und stellte für den sozialen Aufsteiger ein ernsthaftes Problem dar: Jederzeit musste er befürchten, sich vor den Angehörigen höherer Schichten zu blamieren, da er, um einen Ausdruck des Soziologen Pierre Bourdieu zu verwenden, seinen ‹Habitus›, also seine in Sprache, Gestik und Umgangsformen geronnene Lebensgeschichte, nicht ablegen konnte. Bezeichnenderweise soll es gerade in der klassenbewussten englischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts erstmals zu einem epidemischen Auftreten von shyness gekommen sein, da etliche soziale Aufsteiger in stetiger Angst davor lebten, sich durch ihren lowerclass -Akzent zu verraten: «Etliche Leute gehen als ‹Ladies› oder ‹Gentlemen› durch, solange sie nur nicht den Mund aufmachen», warnte ein englischer Schüchternheitsratgeber aus dem frühen 20. Jahrhundert: «− wenn sie es dann doch tun, zeigt sich ihre wahre Herkunft.»
Suchte man in der Literaturgeschichte nach einem dergestalt Befangenen, so würde man auf den aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Anton Reiser aus dem gleichnamigen Roman von Karl Philipp Moritz treffen, der bei seinen Versuchen, über seinen Stand hinauszukommen, in ständiger, neurotischer Angst vor Beschämung lebt: «Die Furcht, in einem lächerlichen Lichte zu erscheinen, war bei Reisern zuweilen so entsetzlich, daß er alles, selbst sein Leben, würde aufgeopfert haben, um dies zu vermeiden.» Bezeichnenderweise findet diese Schamangst stets dann ihre schlimmste Bestätigung, wenn Reiser mit Angehörigen höherer sozialer Schichten, etwa seinen elegant gekleideten Mitschülern konfrontiert ist: «Der Rock gab ihm ein lächerliches Ansehen, weil er ihm zu kurz geworden war. Dies fühlte er selbst, und der Umstand trug sehr viel zu der Schüchternheit in seinem Wesen bei […].»
Ein entfernter französischer Verwandter von Anton Reiser ist Julien Sorel, der gesellschaftliche Emporkömmling aus Stendhals Roman Rot und Schwarz , der zwar nach heutigen Begriffen nicht besonders schüchtern ist, sich in Gegenwart gesellschaftlich höhergestellter Damen aber oft ausnehmend blöde benimmt: «Madame de Rênal kam aus dem Staunen nicht heraus, wie unbeholfen und dreist er war», heißt es an einer Stelle über die Frau des Bürgermeisters, der Julien seine tollpatschigen Avancen macht − doch glücklicherweise findet Madame die Unbeholfenheit ihres Hauslehrers charmant und auch sogleich eine wohlmeinende Erklärung für die Blödigkeit ihres Untergebenen: «Das ist die Schüchternheit der Liebe bei einem Mann von Geist!»
In gewisser Weise stellt die peinigende Erfahrung der Blödigkeit beziehungsweise Schüchternheit also die Kehrseite der Demokratisierung dar, wie sie sich seit Beginn der Moderne in den westlichen Gesellschaften vollzog. Man könnte sogar vermuten, dass die Schüchternheit proportional zur gesellschaftlichen Durchlässigkeit und Aufwärtsmobilität zunimmt: Je größer die sozialen Aufstiegschancen sind, je weiter und vielfältiger die Kreise, in denen man sich bewegt, desto zahlreicher werden auch die Gelegenheiten, sich zu blamieren. «Stände und Klassen in der alten Weise gibt es nicht mehr, aber man täusche sich nicht: Die Systeme der Ausgrenzung sind feiner geworden», schreibt der Journalist Ulrich Greiner. «Als Steuerzahler, Radfahrer, Katholik, Tourist, Arbeitnehmer muss ich jeweils anderen
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