Schuechtern
einerseits zu meiner Schüchternheit, im Sinne von aidós , gratuliert; schließlich handelte ich moralisch. Und er hätte mich andererseits für meine Schüchternheit, im Sinne von aischýne , gerüffelt; schließlich handelte ich nicht aus moralischer Einsicht, sondern aus Furcht. Vielleicht hätte ein Stoiker aber auch die Problemstellung gar nicht verstanden, da man sich in der Antike nur selten als Austauschschüler in einer Hütte an der amerikanischen Westküste wiederfand. Auf jeden Fall lässt dieses Gedankenspiel erahnen, dass es vom antiken Verständnis der Schüchternheit bis zu unserer modernen Auffassung dieser Charaktereigenschaft noch ein weiter mentalitätsgeschichtlicher Weg war.
Auch die Bibel unterscheidet zwischen negativ und positiv bewerteten Gefühlen der Scham und Scheu. «Denn man kann sich so schämen, daß man in Sünde gerät», heißt es im apokryphen Buch Jesus Sirach, «und man kann sich auch so schämen, daß man Gnade und Ehre davon hat.» Wer etwa zu schüchtern ist, sich seiner Sünden zu bekennen oder das Wort zu ergreifen, wenn er dadurch jemandem helfen könnte, der zeigt «falsche Scham». Wer hingegen davor zurückscheut, einen Freund zu verraten, vertragsbrüchig zu werden, auszuplaudern, was man unter dem Siegel der Verschwiegenheit erfahren hat, oder zu einer Prostituierten zu gehen, der beweist «rechte Scham». Wie in der griechischen Tradition geht es hier offenbar um zwei verschiedene, unterschiedlich motivierte Formen der Zurückhaltung: eine, die der Furcht oder Feigheit entspringt, die vom rechten Handeln abhält und daher zu verdammen ist. Und eine andere, die sich einer Art religiösem und sozialem Anstandsgefühl verdankt und die dem Schamhaften daher zur Ehre gereicht.
Dieses Moment setzt sich im Neuen Testament und später in der christlichen Philosophie fort. Im Markus-Evangelium etwa fordert Jesus seine Jünger dazu auf, sich seiner nicht zu schämen, da er sich sonst am Jüngsten Tag revanchieren und im Gegenzug ihrer schämen könnte (welche eschatologischen Konsequenzen das hat, wird zwar nicht ausbuchstabiert, lässt sich aber erahnen: Im Himmel ist für schüchterne Leugner kein Platz). Der Apostel Paulus warnt in seinem Brief an die Philipper davor, sich von seinen Widersachern einschüchtern zu lassen. Der Kirchenvater Augustinus tadelt die falsche Scham, die frühe Christen gegenüber Ungläubigen und Spöttern empfanden. Und auch bei Thomas von Aquin kann erubescentia (wörtlich: ‹das Erröten›) jenes beklemmende Gefühl bezeichnen, das der Verkünder des Evangeliums empfindet, wenn er von den Weltmenschen als Narr verlacht wird.
Hinzu kommt im christlichen Denken jedoch noch ein weiteres Motiv: nämlich die Vorstellung, dass Schamhaftigkeit eine Gefühlshaltung ist, die jedem Menschen gut zu Gesicht steht, da er von Natur aus sündhaft ist. Der Mensch schämt sich demnach, oder sollte sich zumindest schämen, weil seine Urahnen im Paradiesgarten sich seinerzeit zu hochmütig − man könnte auch sagen: zu unschüchtern − verhielten und danach begehrten, ihrem Schöpfer ebenbürtig zu werden. Die Folgen sind bekannt: Vertreibung, Feldarbeit, Schwangerschaft. Der schlagendste Beweis für die kreatürliche Unvollkommenheit des Menschen und der beständig an seinen Sündenfall erinnernde Knoten im Taschentuch ist aber die Peinlichkeit, welche der Mensch angesichts seiner körperlichen Nacktheit empfindet. Neben der falschen und der richtigen Scham nimmt daher vor allem die geschlechtliche Scham in den Schriften des Heiligen Augustinus sowie des Thomas von Aquin breiten Raum ein: «Nun aber muß der Geist sich schämen, daß ihm der Körper Widerstand leistet, der ihm doch wegen seiner niederen Natur unterworfen ist», heißt es im Gottesstaat von Augustinus. Das Gefühl der Scham resultiert also daraus, dass der Körper sich immer wieder aufführt wie eine Horde hormonell übersteuerter Jugendlicher auf Klassenfahrt, während der verantwortliche Lehrer − der ‹Geist› − mit über dem Kopf zusammengeschlagenen Händen hilflos daneben steht.
Diese gedankliche Linie, welche das Schamgefühl primär als Leibesscham versteht, zieht sich bis weit in die Neuzeit: Noch Anfang des 20. Jahrhunderts deutete der Philosoph und Soziologe Max Scheler die Scham als allgemeinen Teil der menschlichen Natur, die ihren Ursprung in der «einzigartige[n] Stellung […] des Menschen», in seiner «Lage zwischen dem Göttlichen und Tierischen» habe. Der Mensch
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