Schuechtern
hemmungs- und schamlos um Hilfe brüllen würde wie nur irgendein Unschüchterner auf dieser Erde.
Was ich mit diesem Predigthistörchen sagen möchte: Man kann sich nur unter sicheren Grundbedingungen, in geordneten, ‹zivilisierten› Verhältnissen Gedanken über die Bedrohung machen, die von der Aufmerksamkeit anderer Leute ausgehen könnte. Blicke, so sagt man, können töten − aber Keulen, Schwerter, Pistolenkugeln und auch Gletscherspalten sind doch ungleich effektiver. Wer Furcht vor einer äußeren Gefahr haben muss, hat vermutlich weniger Zeit für Sozialangst. Schüchternheit ist in gewisser Weise ein Luxusproblem. Dies mag, auf die je individuelle Lebensgeschichte bezogen, wie eine Binsenweisheit anmuten und möge bitte keinesfalls als Lamento über eine Verweichlichung der Gesellschaft zu Friedenszeiten verstanden werden («Was bist du, schüchtern? Ein paar Wochen an der Ostfront hätten dir solche Flausen schon ausgetrieben!»). Gesamtgesellschaftlich betrachtet beschreibt das Modell aber recht treffend die sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Bedingungen, unter denen sich die moderne Schüchternheit entwickeln konnte.
Folgt man dem Soziologen Norbert Elias, so ist das massive Anwachsen der Scham- und Peinlichkeitsschwellen in Mitteleuropa seit dem 16. Jahrhundert Teil und Ergebnis eines großen ‹Zivilisationsprozesses› − und nicht zuletzt der zunehmenden Pazifizierung. Nur weil immer größere Räume zumindest zeitweilig befriedet wurden, indem beispielsweise das Wegenetz ausgebaut und die Gefahr durch Raubritter und -tiere eingedämmt wurde, erst als die Umwelt also aufhörte, eine Gefahrenzone zu sein, aus der jederzeit «Unruhe und Furcht in das Leben des Einzelnen» einbrechen konnte, konnte sich auch die Sensibilität der Menschen für den interpersönlichen Umgang verfeinern; und damit nahm auch die Sorge zu, den anderen durch anstößiges, ‹unzivilisiertes› Verhalten zu verletzen. «Nun verstärken sich proportional zur Abnahme der äußeren die inneren Ängste, die Ängste des einen Sektors im Menschen vor dem andern», schreibt Elias in seiner Studie Über den Prozeß der Zivilisation. «Nun wird ein ganzer Teil der Spannungen, die ehemals unmittelbar im Kampf zwischen Mensch und Mensch zum Austrag kamen, als innere Spannung im Kampf des Einzelnen mit sich selbst bewältigt. […] Die Gefahrenzone geht jetzt gewissermaßen quer durch die Seele aller Individuen hin.»
In eben dem Maß, in dem die äußeren Bedrohungen abnahmen, bröckelte also der innerpsychische Burgfrieden. Die Angst, die ehedem von konkreten äußeren Gefahren ausgelöst worden war, wurde nun zunehmend internalisiert, zu einer abstrakten Angst vor Beschämung, einem stetigen, quälenden Ringen mit sich selbst beziehungsweise den durch die Gesellschaft vermittelten Moralgeboten und Wertvorstellungen. Zugleich wurden die sozialen Netze, in denen die Menschen lebten, immer engmaschiger, die Abhängigkeiten immer größer, die gegenseitige Kontrolle wurde stärker: Die Möglichkeiten, sich zu blamieren oder aber einer drohenden Blamage durch vorausschauende Schüchternheit zu entgehen, nahmen seit dem 16. Jahrhundert stetig zu.
Empfindsamkeit Doch die intensive Auseinandersetzung mit den eigenen Angst- und Peinlichkeitsgefühlen, die der Schüchternheit zugrunde liegt, setzt nicht nur ein modernes Subjekt und die Verlagerung äußerer Ängste in die Psyche voraus. Sie bedarf auch des Bewusstseins, dass solche Gefühle Bedeutung haben und daher der genauen Beobachtung wert sind − dass Emotionen also mehr sind als das Ergebnis einer bloßen Körpermechanik, die den Geist vom Denken abhält und daher von diesem nach Möglichkeit kontrolliert werden sollte.
René Descartes etwa beschrieb das Phänomen des Errötens, wie es bei schüchternen Menschen auftreten kann, noch wesentlich als Folge einer fehlerhaften physiologischen Hydraulik: «Dies zeigt sich vorzüglich bei der Scham, welche eine Verbindung der Selbstliebe und des Verlangens, eine drohende Schande zu vermeiden, ist», so der Philosoph in seiner 1649 erschienenen Schrift Über die Leidenschaften der Seele : «Deshalb dringt das Blut aus den inneren Teilen nach dem Herzen, von da durch die Arterien nach dem Gesicht, und eine damit verbundene mäßige Traurigkeit hemmt die Rückkehr des Blutes nach dem Herzen.»
Es waren gerade solche mechanistischen Auffassungen des menschlichen Körpers und seiner Affekte, gegen die sich die im 18.
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