Schuechtern
ihrer sozialen Rollenperformance. Das Urteil, welches das Publikum über sie fällt, betrifft nur ihr fiktionales Handeln und nicht wie im Alltag (dies ist die vielleicht größte Angst des Schüchternen) ihre ganze Person. Da sie sich sowieso ständig beobachtet fühlen und der Rollenhaftigkeit ihres Tuns in besonderem Maße bewusst sind, treten sie gewissermaßen nur von einer Bühne auf die nächste, vom theatrum mundi auf ein klar abgegrenztes theatrum .
Es fällt mir daher vergleichsweise leicht, bei öffentlichen Auftritten gerade und besonders Dinge zu tun, die ich außerhalb einer Bühne nie und nimmer tun würde. Denn zum einen entgehe ich so der Gefahr, dass meine öffentliche persona , mein Bühnen-Ich, mit einem meiner privaten Ichs verwechselt werden könnte. Zum zweiten bietet der Rahmen einer Aufführung willkommene Gelegenheit, Gefühle und Handlungen zu erproben, die mir sonst verschlossen blieben: «Und dann konnte er auf dem Theater alles sein, wozu er in der wirklichen Welt nie Gelegenheit hatte», heißt es entsprechend in Karl Philipp Moritz’ Roman über den schüchternen Anton Reiser; «wie schmachtete er, diese Empfindungen, die ihm so natürlich zu sein schienen, […] nur einmal durch ein kurzes, täuschendes Spiel der Phantasie in sich wirklich zu machen». Und zum dritten und letzten hege ich vermutlich insgeheim die Hoffnung, durch die kurzfristige äußere Peinlichkeit, der ich mich bei solchen Auftritten aussetze, meine tiefsitzende Schüchternheit überspielen, also gewissermaßen Feuer mit Feuer bekämpfen zu können.
Es handelt sich hierbei um ein altbekanntes Phänomen − das britische musical comedy- Duo Flanders & Swann etwa besang es schon in den 1960er Jahren in dem Song «Twice Shy». Er beschreibt, wie eine dürftig bekleidete Dame einen ehrwürdigen Londoner Klub betritt, dort ohne zu zögern auf den nächstbesten Tisch springt, vor versammelten Gästen auf einer Geige herumkratzt, sich den Zobelpelz vom Hals reißt und auch sonst alles tut, um irgendwie aufzufallen − woraufhin ein älterer Gentleman nur entschuldigend sagt, sie tue das alles ja nur, um ihre abgrundtiefe Schüchternheit zu kompensieren:
She’s shy, so shy
We know the reason why
Though her private life is a public mess
And she’s written a book called I Confess
Still she looks quite sweet in her topless dress
And underneath she’s shy
She’s really dreadfully shy.
Psychologen kennen für ein solches Betragen den schönen Ausdruck des ‹kontraphobischen Verhaltens›. «Da internalisierte Scham gewöhnlich viel archaischer und zwingender als ‹realistische› Scham […] ist, kann die äußere Scham dazu benutzt werden, um gegen die viel bedrohlichere innere Scham zu schützen», schreibt der Psychoanalytiker Léon Wurmser: «Situationen im äußeren Leben, in denen Demütigung erwartet und provoziert wird, können daher aktiv herbeigeführt werden, um die viel verheerenderen und tiefergehenden Gefühle von Unwert nicht empfinden zu müssen.» Wer sich aus freien Stücken und unter selbstgezimmerten Rahmenbedingungen der vorübergehenden Blamage preisgibt, der kann, zumindest für kurze Zeit, seine chronische Schamhaftigkeit und Selbstunsicherheit verdrängen.
Das äußere Auftreten des sozial Ängstlichen verhielte sich demnach gerade umgekehrt zu seinem eigentlichen Wesen (so man denn in unserer postmodernen Zeit noch an ein solches zu glauben geneigt ist) − gerade die ärgsten Exhibitionisten wären demzufolge in ihrem Innern die allerschüchternsten Menschen. Dies mag paradox erscheinen, könnte aber erklären, weshalb ausgerechnet Hollywoodschauspieler und Rockstars − Menschen also, die sich von Berufs wegen tagaus, tagein vor einer globalen Öffentlichkeit exhibitionieren − immer wieder behaupten, in ihrer Jugend ausgeprägt schüchtern gewesen zu sein. Bei einem notorischen Nervenbündel wie Woody Allen oder dem spindeligen Sänger Michael Stipe mag ein solches Bekenntnis zur Sozialangst nicht weiter überraschen − bei Alpha-Männern wie Robert De Niro, Tom Cruise oder Richard Gere hingegen schon. Selbst der testosterontriefende James-Bond-Darsteller Daniel Craig verkündete unlängst in einem Interview mit der ZEIT : «Echte Helden sind schüchtern.» Und…
«Den Trick kenne ich», sagt Agentin Babajaga, wedelt eine Rauchschwade beiseite und gähnt: « Fair is foul, and foul is fair . Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Es ist ein Teilchen, es ist eine Welle. Bla
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