Schuechtern
bla bla. Mit dieser Masche, mein Lieber, kannst du so ziemlich alles erklären, und mit einem Mal sind alle arroganten Arschlöcher schüchtern und alle Schüchternen arrogante Arschlöcher, und ich bin die Kaiserin von China. Gan bei! Prost!» Sie formt die Rechte zur hohlen Hand und tut so, als würde sie mit mir anstoßen.
«Und sag mal, habe ich das richtig verstanden?» Babajaga lässt sich in ihren Stuhl zurücksinken. «Hast du dich eben tatsächlich, so en passant und durch die Blume, mit Robert De Niro und Tom Cruise verglichen? Weil ihr alle miteinander so schrecklich schüchtern seid und deshalb beherzt die Flucht nach vorn angetreten habt?»
Sie schüttelt den Kopf.
«Nur leider hast du es, trotz all deiner Schüchternheit, die dich ja eigentlich zum Leinwandhelden prädestinieren müsste, bloß zum Bücherschreiber gebracht. Und jetzt lässt du hier schamlos die Hüllen fallen. Handelt es sich dabei eigentlich auch um, wie nanntest du es eben so schwülstig, kontraphobisches Verhalten?»
Aua, denke ich. Mein Über-Ich legt seine frisch lackierten Fingernägel heute aber auch wirklich in jede offene Wunde.
Dabei ist die Antwort auf diese Frage eigentlich recht einfach: Ein Buch, die Schrift, die nicht-gesprochene Sprache ist der ideale Aufenthaltsort für den Schüchternen schlechthin. Das Gespräch mit dem Computer – oder früher dem Gänsekiel, dem Füllfederhalter oder der Schreibmaschine − befreit den Sozialängstlichen nämlich von dem Druck, sich dem Tempo, der Lautstärke und der schieren Präsenz der verbalen Kommunikation anpassen zu müssen.
Was er dabei genau schreibt, ist zunächst einmal nebensächlich − entscheidend ist, dass er nicht sprechen muss, dass er während des kommunikativen Vorgangs mit sich und seinen Worten allein ist. Der Schüchterne gräbt beim Schreiben, um eine Formulierung von Franz Kafka zu verwenden, gewissermaßen einen «Schacht von Babel». Während der Turmbau im biblischen Gleichnis ein immer größeres Stimmengewirr und eine zunehmende Sprachverwirrung mit sich bringt, führt der Schacht, so würde ich dieses rätselhafte Kafka-Wort deuten, in die genau entgegengesetzte Richtung, fort von der kommunikativen Zersplitterung, fort vom polyphonen Palaver der Menge, hin zu einer Sprache, die ganz bei sich selbst und dem Schreibenden ist − einer Sprache, die so schnell von den engen Wänden des Schachts widerhallt, dass ihr Echo von der eigentlichen sprachlichen Äußerung nicht zu unterscheiden ist.
Wer einen Schacht von Babel gräbt, der muss also gar nicht sprechen, sondern kann ebenso gut schweigen und schreiben. Er kann sich soviel Zeit lassen, wie er benötigt und will, um einen Gedanken zu verfertigen; er kann ihn in aller Ruhe notieren; er kann ihn präzisieren, ihm Nachdruck verleihen oder, dies ist bei Schüchternen vermutlich der häufigere Fall, ihn entschärfen. Er kann sogar alles wieder zurücknehmen und löschen, bevor ein anderer es gelesen hat. «Schreiben ist […] das einzige Mittel, die Rede zu schützen oder sie wieder einzufangen», so Jacques Derrida. Wie viele geharnischte E-Mails, in denen ich meiner Mitwelt nach Kräften die Meinung sage, habe ich schon unversandt in den Tiefen des digitalen Papierkorbs versenkt! Die Delete-Taste ist das wichtigste Kommunikationswerkzeug des Schüchternen; der Satz «Möchten Sie alle diese Elemente wirklich unwiderruflich löschen?» eine Frage, die er nur allzu leichten Herzens mit Ja beantwortet.
Und selbst wenn der Schüchterne sich überwindet, seine Worte mit der Öffentlichkeit zu teilen, verhält er sich dabei doch vergleichsweise zurückhaltend: Er überrumpelt und umspült seine Kommunikationspartner nicht mit den Schallwellen seiner Stimme, sondern überlässt es ihnen selbst, wann, wo und ob sie überhaupt seine Botschaft empfangen wollen. Die Schrift ist verhalten, zwischen Seiten versteckt, in stummen Buchstaben fixiert. Wer etwas von ihr erfahren will, muss sie erst einmal aus der Reserve locken. Auch die geschriebene Sprache ist schüchtern.
Während ich hier am Computer sitze und wortlos meine Erinnerungen befrage, fällt mir auf, wie früh ich mich schon nach einem Leben unter stummen Buchstaben gesehnt habe. Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, war mein erster Berufswunsch nicht etwa Fußballer, Feuerwehrmann oder Lokomotivführer, sondern Lexikonherausgeber. Bereits in der ersten oder zweiten Klasse träumte ich davon, eine Liste sämtlicher Wörter anzulegen, die mir
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