Schuechtern
bekannt waren, ja die es überhaupt gibt (ein Unterschied, der mir damals kaum der Rede wert zu sein schien). Vor meinem inneren Auge sah ich mich stumm vor linierten DIN A5-Heften sitzen und Seite für Seite mit Wörtern füllen; dass sich irgendjemand vor mir schon einmal diese Mühe gemacht haben könnte, erschien mir unwahrscheinlich (man stelle sich mein Entsetzen vor, als ich zum ersten Mal ein Exemplar des Großen Brockhaus erblickte).
Hätte ich damals schon Herman Melvilles Erzählung «Bartleby the Scrivener» gekannt, hätte ich mich sicherlich in der Figur des sonderbaren Schreibers wiedergefunden, der den Großteil seines Lebens in einem «Dead Letter Office» zugebracht hat. Der Ausdruck dead letter beschreibt zunächst einmal nichts weiter als einen unzustellbaren Brief − er kann aber auch ‹toter Buchstabe› bedeuten. Der einsame, eigenbrötlerische Schreiber hätte sein Dasein demnach mit nichts als der Verwaltung lebloser Schriftzeichen zugebracht. Kein Wunder, dass er sich standhaft weigert, seinen Arbeitsplatz zu verlassen: Sein Schreibtisch ist ihm zur Heimat geworden, die stummen Lettern zur einzigen Gesellschaft; als er gewaltsam aus seinem Büro entfernt wird, hört er konsequenterweise auch auf zu essen und geht bald wortlos zu Grunde. Als der Erzähler Bartlebys leblosen Körper findet, liegt dieser merkwürdig gekrümmt auf der Seite, die Knie hochgezogen, wie eine Hieroglyphe; als wäre Bartleby selbst zu einem Schriftzeichen geworden.
Auch wenn mir ein solch einsames Ende nach Möglichkeit erspart bleiben möge, übt die unaufdringliche Natur toter Buchstaben doch seit jeher eine große Faszination auf mich aus − kein Wunder, dass ich nach der Grundschule ein humanistisches Gymnasium besuchte, wo man mit Lateinisch, Altgriechisch und Hebräisch gleich drei tote Sprachen auf einmal erlernen konnte. Lebende Sprachen waren mir hingegen − mit Ausnahme des Englischen, das ich nach drei Jahren im englischsprachigen Ausland wenigstens passabel zu beherrschen glaube − immer etwas zu quirlig: Zu groß schien mir die Gefahr, mich durch die Wahl eines falschen Worts zu blamieren, zu unkalkulierbar das Risiko, aufgrund der fehlerhaften Aussprache eines Nasals oder der Unfähigkeit, das alveolare R zu rollen, verlacht zu werden. Vor ein paar Jahren machte ich zwar noch einmal den halbherzigen Versuch, im Rahmen eines dreiwöchigen Intensivkurses Spanisch zu lernen. Doch in der Sprachschule in Salamanca brachte ich, obwohl ich mit der Grammatik und dem Vokabular leidlich vertraut war, kaum je ein Wort über die Lippen. Die Sache wurde dadurch nicht einfacher, dass unsere Spanischlehrerin die Angewohnheit hatte, sich während des Unterrichts bei ihren Schützlingen, vermutlich um iberische Lebensfreude zu vermitteln, vor versammelter Klasse auf den Schoß zu setzen, bevor sie dem dergestalt Eingekeilten eine Frage stellte. Leider war es mir unter diesen Bedingungen − von zwanzig Augenpaaren beobachtet, eine attraktive Frau auf dem Schoß, in ständiger Angst vor einer erección − vollkommen unmöglich, auch nur die einfachsten Fragen, etwa nach meiner Lieblingsfarbe oder der Hauptstadt von Spanien, sinngemäß zu beantworten.
Vermutlich ist dies der Grund, weshalb ich im Spanischen nie über ein paar Rucksacktouristenfloskeln und dämliche Manu-Chao-Phrasen hinausgekommen bin («¡Hola! Me llamo Florian y me gusta marihuana»), während ich zum Beispiel im Lateinischen, das den modernen romanischen Sprachen ja nicht ganz unähnlich ist, immer sehr gut war. Undenkbar, dass man auf Lateinisch je ein Gespräch mit einem wildfremden Menschen führen müsste. Undenkbar, dass unser ehemaliger Lateinlehrer, Herr Dr. Sauer, sich je bei einem Schüler oder einer Schülerin auf den Schoß gesetzt hätte, bevor er die Stammformen von ferre abfragte. Und erst die wohltuende, germanenknochentrockene Sprödigkeit der Texte, die wir übersetzten: «Nachdem sie diese Dinge getan hatten, brachten sie die vorgeschriebenen Opfer dar, auf dass sie nicht der ihnen obliegenden Pflichten für säumig befunden werden könnten…» Manche Autoren schrieben ja sogar von sich und ihren Taten in der dritten Person! Das war eine Art der Distanz zum eigenen Ich, die mir unmittelbar einleuchtete. Tote Sprachen, niedergeschrieben in toten Buchstaben, sind für uns Schüchterne eigentlich wie geschaffen. Es ist ein Wunder, dass wir nicht alle auf Latein – die Wörter auf Zettel gekritzelt oder auf die Displays
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