Schuechtern
unbedingt einen mannshohen Spiegel kaufen. Einen Spiegel, in dem ich mich von Kopf bis Fuß betrachten könne. Was, mein einziger Spiegel sei nur handtellergroß? Warum ich denn keinen größeren Spiegel… Ja, warum nur? Natürlich brauchte ich einen Spiegel, um mich hin und wieder zu rasieren oder mein Ebenbild zu beschimpfen. Aber für die Rasur reichte mir auch ein Rasierspiegel. Und zum Beschimpfen musste ich meinen Körper nicht sehen, dazu genügte mir der Anblick meines Gesichts.
3. Ich solle mir das Selbsthilfebuch Ich bin o.k. − Du bist o.k. des Transaktionsanalytikers Thomas A. Harris kaufen. Das Werk, so habe ich inzwischen gelernt, ist eins der erfolgreichsten Sachbücher aller Zeiten und wurde weltweit über fünfzehn Millionen Mal verkauft − aber: nicht an mich. Abgesehen davon, dass ich das Konzept, als Arzt seinem Patienten ein Selbsthilfebuch zu empfehlen, gelinde gesagt kurios finde, sehe ich mich schon aus ästhetischen Gründen außerstande, ein Buch dieses Titels zu kaufen. Ich will nicht okay sein, und ich will auch nicht meine Frau, meine Verwandten oder Freunde okay finden. Ich will sie schätzen, bewundern, lieben oder meinetwegen auch hassen, aber nicht einfach nur irgendwie, ein Stück weit, weil’s halt sein muss, akzeptieren.
Eigentlich hätte ich, als meine Ärztin diese Buchempfehlung aussprach, sofort aufstehen, mich mit einem freundlichen «Okay dann!» von ihr verabschieden und ihre Praxis für immer verlassen müssen − dass ich das nicht tat, war wieder mal meiner verdammten Schüchternheit geschuldet. Wenn ich die Therapie letzten Endes doch mit gestärktem Selbstbewusstsein beenden konnte, dann vor allem, weil ich jede Sitzung mit dem Gefühl verließ, die absolute Sinnlosigkeit der dort unternommenen Behandlungsversuche zu durchschauen. Gerade das Scheitern der verhaltenstherapeutischen Maßnahmen führte dazu, dass ich mich besser fühlte. Auf paradoxe Weise war die Therapie also ein Erfolg.
Vermutlich hätte ich an diese inzwischen über ein Jahrzehnt zurückliegende Behandlung keinen Gedanken mehr verschwendet, wenn ich nicht vor Kurzem auf ein Selbsthilfebuch aus dem Jahr 1907 gestoßen wäre. Es stammt aus der Feder eines gewissen Professor Dr. P. Lahn und trägt den griffigen Titel Die erfolgreiche Bekämpfung der Schüchternheit, Befangenheit, Ratlosigkeit, Lampenfieber, Furcht vor dem andern Geschlecht, Menschenscheu, Angstzustände, Prüfungsangst, krankhaftes Erröten, sowie andere seelische Leiden und die gründliche Heilung und sofortige Beseitigung durch ein sofort ausführbares, kostenloses Verfahren . Wer beschreibt mein Erstaunen, als ich feststellte, welche Methoden zur erfolgreichen Bekämpfung der Schüchternheit der gute Professor Lahn empfiehlt?
1. Man möge morgens immer zur selben Zeit und nach Möglichkeit früh aufstehen («Da heißt es eben anfangen, […] einen Ruck nehmen, einen Anlauf machen, sich einen Termin setzen»).
2. Man möge sich umgehend einen großen Spiegel kaufen («Diese Auffindung und Anwendung des fraglichen Gegenstandes bedeutet tatsächlich gegenüber der Schüchternheit, Verlegenheit und ähnlichen Schwächezuständen wahrhaftig das Ei des Kolumbus»).
3. Vor allem aber möge man sich einen Grund- und Leitsatz zur Förderung des Selbstbewusstseins einprägen: «‹Auch ich bin wer; Das, was du bist, bin ich auch!› Diese Worte soll sich jeder unhörbar auf die Lippen rufen, wenn ihm die Gegenwart anderer einschüchtern will.» Außer der Tatsache, dass er einen Schüchternheitsratgeber geschrieben hat, weiß ich nichts über Professor Lahn, aber ich möchte wetten: Wenn er, wie Thomas A. Harris, in den Sechzigerjahren in Kalifornien gelebt hätte, würde sein Grund- und Leitsatz etwas anders gelautet haben, nämlich: «Auch ich bin o.k.; So o.k., wie du bist, bin ich auch».
Es ist tatsächlich bemerkenswert, wie beharrlich sich manche Ratschläge zur Bekämpfung der Schüchternheit über die Jahrhunderte hinweg gehalten haben. Dies betrifft vor allem den Ansatz der sogenannten Konfrontationstherapie: Bei dieser verhaltenstherapeutischen Methode stellt sich der Schüchterne gezielt und in zunehmender Intensität seinen Ängsten. Indem er die allmählich schwieriger werdenden Expositionsübungen meistert, soll er lernen, dass seine Befürchtungen, zumindest in dem Maß, in dem er sie erleidet, unbegründet sind; zugleich gewöhnt er sich an die Angst auslösenden Reize.
So empfahl schon Immanuel Kant, dass man
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