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Schuechtern

Schuechtern

Titel: Schuechtern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Werner
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Schüchternheit am besten bekämpfen könne, indem man sich gegenüber ihren Auswirkungen allmählich desensibilisiert: Es sei «kein anderes Mittel», schreibt er in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht , «als von seinem Umgange mit Personen, aus deren Urtheil über den Anstand man sich wenig macht, anhebend, allmählig von der vermeintlichen Wichtigkeit des Urtheils Anderer über uns abzukommen und sich hierin innerlich auf den Fuß der Gleichheit mit ihnen zu schätzen.»
    Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts schrieb der erwähnte Professor Lahn: «Das beste Mittel, sich die Schüchternheit abzugewöhnen, ist, sich selbst Aufgaben aufzuerlegen, die einem unangenehm sind und vor denen man sich gefürchtet und gescheut hat. Es gibt Leute, denen nichts peinlicher ist, als antichambrieren zu müssen. […] Solche Leute müssen daher öfter Besuche machen, sich an das Versprechen und Antichambrieren gewöhnen.»
    Ein weiteres Jahrhundert später schließlich − das Antichambrieren, also das Buckeln und Kriechen in den Vorzimmern der Mächtigen, war inzwischen etwas aus der Mode gekommen − gab der renommierte Angstforscher Borwin Bandelow in seinem Buch für Schüchterne eine ganze Reihe von Tipps, wie man der eigenen Schüchternheit die Stirn bieten und sie dadurch peu à peu abschütteln solle: «Gehen Sie mit einem Dauergrienen durch die Fußgängerzone einer fremden Stadt. Lächeln Sie penetrant alle Entgegenkommenden an − den Rosenverkäufer, die Dame im Jägerkostüm, die tätowierten Jugendlichen mit Migrationshintergrund. […] Fragen Sie drei Leute nach dem katholischen Postamt. […] Bringen Sie einen überforderten Kellner zum Wahnsinn, der in dem überfüllten und personell unterbesetzten Lokal offensichtlich unter Zeitdruck steht, indem sie umständlich Sonderwünsche anbringen. […] Lassen Sie sich von Anhängern ausgefallener Sekten in der Fußgängerzone ansprechen und machen Sie sich lauthals lustig über sie. […] Tippen Sie einfach wahllos eine beliebige Nummer ins Telefon und verwickeln Sie denjenigen, der den Hörer abnimmt, in ein sinnloses Gespräch.»
    Ich bin mir sicher, dass Professor Bandelow in seiner Eigenschaft als Oberarzt einer psychotherapeutischen Einrichtung schon unzähligen Menschen mit Angststörungen geholfen hat – ob aber solche launigen, in einem Taschenbuch erteilten Ratschläge tatsächlich dazu angetan sind, schüchternen Menschen «Wege aus der Selbstblockade» zu weisen, wie der Untertitel seines Buchs verheißt, wage ich, mit Verlaub, zu bezweifeln. Einige der Selbsthilfetipps, etwa jener mit dem «katholischen Postamt», scheinen schlicht Bandelows kabarettistischer Ader geschuldet zu sein: Angeblich erfand der Angstforscher Ende der Sechzigerjahre, damals noch als Schüler, das Genre der Ostfriesenwitze. Andere Tipps wie die zum Schikanieren unschuldiger Servicekräfte erscheinen mir merkwürdig asozial: Woher kann ich denn wissen, dass der arme, überforderte Kellner nicht ebenfalls sozialphobisch veranlagt ist und durch meine nervigen Sonderwünsche tatsächlich in den «Wahnsinn» getrieben wird? Wäre es gesamtgesellschaftlich gesehen wirklich sinnvoll, das Selbstvertrauen eines Menschen zu stärken, indem man das eines anderen zugrunde richtet? Wieder andere Ratschläge erscheinen mir nachgerade gefährlich: So fallen mir ohne längeres Nachdenken gleich mehrere Ecken in Berlin ein, wo tätowierte Jugendliche, egal ob mit oder ohne Migrationshintergrund, Entgegenkommenden schon für weniger als ein penetrantes Anlächeln die dauergrienende Visage polieren würden. Und selbst wenn ich durch eine solch brachiale Methode von meiner Schüchternheit geheilt würde: Was nützt mir das schönste Selbstvertrauen, wenn ich mich danach in Behandlung wegen einer gebrochenen Nase begeben muss?
    Was die Konfrontation mit Sektenangehörigen angeht, so muss ich gestehen, dass ich diese durchaus schon gesucht habe − allerdings nicht in therapeutischer Absicht, sondern eher aus religionswissenschaftlichem Interesse. Das vorerst letzte Mal stellte ich mich einer solchen Herausforderung in Salt Lake City, jenem Ort in der Wüste von Utah, wo einem gewissen Brigham Young 1847 per göttlicher Vision mitgeteilt wurde, dass er sich mit seinen Anhängern hier niederlassen und einen Tempel errichten solle: Die Stadt am Großen Salzsee bildet seitdem bekanntlich den Hauptsitz der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Nun handelt es sich bei dieser

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