Schuechtern
Kommunikationsformen gerade für Schüchterne einen scheinbar sicheren Rückzugsort bieten, der es ihnen erlaubt, sich in gebührender Distanz zu ihren Mitmenschen hinter einem Schutzwall aus Schrift zu verstecken. Gegenüber dem altmodischen, mit Feder oder Schreibmaschine verfassten Wort haben die Neuen Medien zudem den unschätzbaren Vorteil, dass sie die unmittelbare Kommunikation nicht nur in Liebesdingen, sondern auch in fast allen anderen Bereichen ersetzen können: Anders als in einem Brief oder Buch kann man im Internet auch Pizza bestellen.
Das World Wide Web, schreiben die Psychologinnen Janet Morahan-Martin und Phyllis Schumacher, sei «das Prozac der sozialen Kommunikation». Doch leider kann auch der Internetgebrauch, wie das genannte Antidepressivum, unerwünschte Nebenwirkungen haben. Um die Jahrtausendwende, also wenige Jahre, nachdem das Internet der Allgemeinheit zugänglich wurde, glaubten einige Psychologen tatsächlich noch, dass das Kommunikationsverhalten im Netz zur ‹Heilung› der Schüchternheit beitragen könne: Sozialphobiker, berichtete etwa eine australische Studie im Jahr 2000, seien online merklich selbstbewusster als in der Face-to-Face-Kommunikation − vor allem aber seien sie in der Lage, dieses Selbstbewusstsein auch in die nicht-virtuelle Welt hinüberzuretten. Nach sechs Monaten intensiven Chattens und E-Mailens sei die Schüchternheit bei der Mehrheit der Probanden merklich zurückgegangen: Das Online-Verhalten habe also auf das Offline-Verhalten abgefärbt, die im Netz erprobten Identitäten seien Teil des Rollenrepertoires in der ‹wirklichen Welt› geworden.
Heute weiß man, dass das Verhältnis zwischen sozialen Ängsten und der virtuellen Welt weitaus problematischer ist als zunächst angenommen: Menschen, die unter Schüchternheit leiden, neigen nicht nur stärker zu Alkoholsucht als andere Menschen, sondern auch zu übermäßigem Internetkonsum, bis hin zu schwerer psychischer Abhängigkeit. Schüchterne Internet addicts verbringen deutlich mehr Zeit in sozialen Netzwerken als extrovertierte Menschen, und sie formen dort häufiger enge virtuelle Freundschaften. Zugleich verstärkt der exzessive Aufenthalt im Internet jedoch ebenjene Probleme, denen die Schüchternen durch ihre Flucht in die Virtualität eigentlich zu entkommen suchten: «Durch die konkurrierenden Angebote zwischen echter sozialer Interaktion und geschützter sozialer Interaktion (Facebook, Chats, Rollenspiele)», sagt der Berliner Psychiater und Autor Jakob Hein, «nimmt die Trainingszeit ‹echter› sozialer Interaktion notwendigerweise ab − und damit auch die Kompetenz.» In der Folge fühlen sich die Schüchternen noch einsamer als zuvor, ihr psychisches Wohlbefinden nimmt ab, ihr Selbstbewusstsein leidet. Wie alle Dinge, die das Leben im Allgemeinen und die Schüchternheit im Besonderen erträglicher machen, birgt auch der digitale Schacht von Babel die Gefahr der Überdosierung und Sucht. Man kann sich darin verrennen, man kann darin versinken; der Tunnel kann über einem einstürzen.
Ich selbst bemühe mich nach Kräften, diese Gefahr in Schach zu halten, indem ich sowohl im Hinblick auf analoge als auch auf digitale Suchtmittel einen strengen Diätplan befolge: Kein Internet nach acht Uhr abends, kein Alkohol vor sieben. Drogen sowieso nur selten, und wenn, dann niemals im Zusammenspiel mit mehr als einem der beiden anderen Elemente − die Gefahr, im polytoxischen Rausch auf Facebook kontraphobische Statusmeldungen zu posten, die man später bereuen könnte, verringert sich dadurch erheblich. Wie ich die dafür erforderliche Disziplin aufbringe? Nun, für den moralischen Druck sorgt natürlich mein knallhartes Über-Ich, Agentin Babajaga − die allerdings, wie ich gestehen muss, in letzter Zeit ein wenig die Kontrolle über sich verloren zu haben scheint. Warum raucht sie beispielsweise neuerdings Kette? Und: Was ist das für ein komisches Geräusch? Das klingt ja so, als würde jemand…
Agentin Babajagas Oberkörper ist nach vorn auf die Tischplatte gesackt. Ihr Kopf ruht auf den verschränkten Unterarmen, ihr Mund ist halb geöffnet, ihren Lippen entsteigt ein fernes Schnurren: Offenbar ist sie über meinen Ausführungen eingeschlafen. Der Ärmel neben ihrem schnarchenden Mund ist mit Lippenstift verschmiert, rot auf weiß… Erst jetzt fällt mir auf, dass Babajaga einen Arztkittel trägt, er ist ihr viel zu groß, trug sie den schon die ganze Zeit?
Ich blicke mich um: Der
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