Schuechtern
Glaubensgemeinschaft zwar nicht gerade um eine ‹ausgefallene Sekte›: In Salt Lake City sind etwa die Hälfte der Einwohner Mormonen, weltweit hat die Kirche über vierzehn Millionen Mitglieder. Dennoch stellt der Missionierungseifer, den die stets überkorrekt gekleideten Anhänger dieser Glaubensrichtung an den Tag legen, für den Schüchternen eine ernstzunehmende, dem Gespräch mit Zeugen Jehovas oder Mitgliedern der Jungen Liberalen kaum nachstehende Herausforderung dar.
Ganz konkret war ich an einem Exemplar des Buches Mormon interessiert, jener Offenbarungsschrift, die der Religionsgründer Joseph Smith Anfang des neunzehnten Jahrhunderts mithilfe eines Wahrsagekristalls aus dem ‹reformierten Altägyptisch› übersetzt haben soll, und die zu den kanonischen Texten des Mormonentums zählt. Leider kann man dieses Buch jedoch, wie ich beim Besuch des Temple Square im Herzen von Salt Lake City feststellen musste, nicht käuflich erwerben − man bekommt es stattdessen, wie mir ein freundlicher Herr in Anzug und Krawatte mitteilte, ganz einfach geschenkt! Alles, was ich tun müsse, sei, diese kleine orangefarbene Karte auszufüllen und gut leserlich meinen Namen, meine Adresse sowie den Tag meiner Rückkehr nach Deutschland darauf zu schreiben, dann werde mir das Buch umgehend zugestellt.
Ich muss gestehen: Ich hatte die Mormonen schlichtweg unterschätzt. Hatte ich tatsächlich geglaubt, dass sich die Mitglieder einer Neureligion eine solche Steilvorlage zum Missionieren entgehen lassen würden? Ein paar Wochen später, ich war zurück in Berlin und kam gerade vom Einkaufen, standen jedenfalls drei ausnehmend wohlfrisierte junge Herren in braunen Anzügen vor dem Haus, in dem ich wohne, mein persönliches Exemplar des Buches Mormon in den Händen. Ich sah sie schon von Ferne − zum Glück hatte ich, im Gegensatz zu ihnen, kein Namensschild am Revers, war also strategisch im Vorteil: Ich wusste, wer sie waren, aber sie konnten nicht wissen, dass ich derjenige war, den sie suchten. Oder doch? Ich spürte, wie mir das Adrenalin in den Schädel schoss und jeden klaren Gedanken aus ihm verdrängte. Binnen Sekundenbruchteilen war meine religionswissenschaftliche Neugier dem Gefühl der Angst gewichen. Das Buch Mormon erschien mir mit einem Mal weitaus weniger interessant als noch wenige Wochen zuvor, neuntausend Kilometer weiter westlich, in Utah.
Wie aber der Konfrontation mit den Missionaren entkommen? Natürlich konnte ich mich einfach mit einem knappen «Tschuldigung!» an ihnen vorbeidrängen (sie belagerten weiterhin das Klingelschild), die Tür aufschließen, blitzschnell durch den offenen Spalt schlüpfen und die Haustür hinter mir ins Schloss ziehen. Was aber, wenn sie versuchten, mir ins Treppenhaus zu folgen? Was, wenn sie mich nach meinem Namen fragten, wenn sie wissen wollten, ob ich einen gewissen Florian Werner kenne? Ich war schwer bepackt und eigentlich spät dran − aber bevor ich mich versah, hatte ich meine Haustür schon weiträumig umgangen und meine Einkaufstüten weiter die Prenzlauer Allee hoch geschleppt. Da die Missionare nicht locker ließen, wiederholte sich dieses beschämende Schauspiel noch ein paar Mal: Sobald ich Männer in dunklen Anzügen in der Nähe meines Hauses erblickte, trug ich meine Einkäufe noch eine Runde spazieren, ganz gleich, wie schwer sie waren und welche Termine auf mich warteten. Undenkbar, dass ich mich dem Gespräch mit den Missionaren gestellt oder mich gar zur Beförderung meines Selbstbewusstseins, wie Professor Bandelow empfiehlt, «lauthals über sie lustig» gemacht hätte. Eher hätte ich mich von ihnen bekehren lassen, auf der Stelle dem Alkohol-, Kaffee- und Schwarzteekonsum abgeschworen und noch am selben Tag ein Zehntel meines Einkommens an die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage gespendet. Die Chuzpe, die ich im Temple Square an den Tag gelegt hatte, war nur eine flüchtige Urlaubsbekanntschaft gewesen. Meine Schüchternheit wurde ich so schnell nicht los.
Da ich aber nicht als unbelehrbarer und therapieresistenter Starrkopf erscheinen will, der sich kampflos mit seiner Schüchternheit abfindet, habe ich mich dazu durchgerungen, wenigstens eine der Expositionsübungen aus dem Buch für Schüchterne auszuprobieren. Ich habe beschlossen, jenes Problem anzugehen, das mir, wie am Anfang dieses Buchs beschrieben, besondere Magen- und Kopfschmerzen bereitet: «Tippen Sie einfach wahllos eine beliebige Nummer ins Telefon und
Weitere Kostenlose Bücher