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Schuechtern

Schuechtern

Titel: Schuechtern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Werner
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Stuhl, der Tisch, die Neonröhre − alles sieht aus wie zuvor. Nur der Spiegel auf der anderen Seite des Raums ist verschwunden und durch einen riesigen Vierfarbdruck mit der Darstellung eines menschlichen Gehirns ersetzt worden. Auch der Rauch, der vorher im Raum stand, hat sich verzogen, Babajagas Zigarette ist erloschen, das silberne Röhrchen, in dem es steckte, ihrer Hand entglitten – allerdings handelt es sich dabei, wie ich nun sehe, keineswegs um eine Zigarettenspitze, sondern um einen Kugelschreiber aus Metall. Offenbar hat Babajaga sich während unseres Gesprächs Notizen gemacht, ein eng beschriebenes Blatt Papier liegt neben ihrem Kopf.
    Ich beuge mich behutsam nach vorne, ziehe das Blatt zu mir herüber, drehe es in meine Richtung und versuche, das Gekrakel zu entziffern. Ich sehe eine Reihe lateinischer Begriffe, die ich nicht kenne, offenbar handelt es sich um die Namen von Arzneistoffen:
    Alprazolam. Diazepam. Fluoxetin.
    Darunter steht, in Druckbuchstaben und mit einem großen Fragezeichen versehen, das Wort
    Konfrontationstherapie?
    Und ganz unten am Ende der Seite, bemerkenswert lesbar und doppelt unterstrichen, der Satz:
    Auf jeden Fall in Behandlung!

Am Apparat       Natürlich ist mir das Bedürfnis, meine Schüchternheit abzulegen und als neuer oder zumindest mit nicht gekanntem Selbstbewusstsein ausgestatteter Mensch aus dem Ei zu schlüpfen, nicht ganz fremd. Vor einigen Jahren wurde dieses Bedürfnis drängender denn je: Die ungelesene Post stapelte sich bei mir zuhause auf dem Telefontisch, weil ich mich nicht getraute, sie zu öffnen, während daneben der Anrufbeantworter überlief. Aus Angst vor dem Alleinsein stolperte ich von einer halbgaren Affäre in die nächste, nur um dann aus Angst vor dem Schlussmachen tatenlos zuzusehen, wie aus der halbgaren Affäre eine ungenießbare Beziehung wurde. Nachts träumte ich davon, der Welt mal so richtig die Meinung zu sagen, alle Befangenheit fahren zu lassen und loszubrüllen, bis meine Stimme versagt, wie der kleine Oskar Matzerath, der mit seinem Geschrei die Scheiben seines Klassenzimmers zum Zerbersten bringt − aber das einzige, was Risse bekam und zersprang, war die Eierschale meines Traums, meine Welt wurde brüchig, und dann brach auch meine Stimme, und wenn ich morgens erwachte, fühlte ich mich so schwach und schüchtern wie zuvor.
    An diesem trüben Tiefpunkt meines Lebens begab ich mich in Behandlung bei einer, wie eine Bekannte es euphemistisch ausdrückte, ‹klugen Frau›; die etwas profanere, aber ebenfalls angenehm altmodisch anmutende Berufsbezeichnung auf ihrem Praxisschild lautete ‹Nervenärztin›. Leider muss ich sagen: Die Erfahrung war ernüchternd, und nicht nur, weil die kluge Frau mir eine Reduzierung meines Alkoholkonsums nahelegte. Ich will der Dame nicht Unrecht tun; gut möglich, dass die pflanzenbasierten Stimmungsaufheller, die sie mir verschrieb, ein wenig Licht in meine Seelengruft brachten und mein weiteres Abdriften verhinderten. Die verhaltenstherapeutischen Ratschläge, die sie mir darüber hinaus zu verabreichen sich bemüßigt fühlte, waren aber leider so erschreckend banal, dass meine Achtung für ihren Berufsstand sofort und für alle Zeiten dahin war. Ich erinnere mich an drei zentrale Verhaltensmaßregeln, die sie mir zur Optimierung meines Selbstwertgefühls ans Herz legte:
    1. Ich solle morgens immer zur selben Zeit und nach Möglichkeit früh aufstehen. Hm. Dass regelmäßiges, zeitiges Aufstehen gegen seelische Verstimmungen helfen kann, wusste ich bereits aus Nicholson Bakers Roman Eine Schachtel Streichhölzer , in dem der Erzähler jeden Morgen in aller Herrgottsfrühe aufsteht, ins Wohnzimmer geht, ein Kaminfeuer entzündet und Kaffee macht, während er die Ente in seinem Garten beobachtet. Das mit dem Kaffeekochen konnte ich gut nachvollziehen, das machte ich auch jeden Tag. Aber früh und regelmäßig? Dass ich mich nur unter meiner Bettdecke richtig sicher fühlte und daher vorzugsweise erst gegen Mittag aus den Federn kroch, war ja Teil meines Problems. Was, so fragte ich mich, würde meine Ärztin einem Mann mit gebrochenem Bein raten: dass er regelmäßig joggen gehen solle, um seine Beinmuskeln zu trainieren und so etwaigen Knochenbrüchen vorzubeugen? Vielleicht wäre mir das Aufstehen ja leichter gefallen, wenn ich eine Ente und einen offenen Kamin gehabt hätte.
    2. Was ich ebenfalls nicht hatte, war ein mannshoher Spiegel. Ich solle mir aber, so meine Nervenärztin,

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