Schuechtern
besetzten Attribut des scheuen, der Welt abhanden gekommenen Schriftstellers; zu den Genie-Qualitäten des Dichters, schreibt Georg Stanitzek, «wird, sozusagen als Kehrseite seiner prometheischen Attribute, künftig auch Blödigkeit zu rechnen sein». Das Klischeebild des sozialscheuen Genies, das mit seinen Romanfiguren besser befreundet ist als mit Menschen aus Fleisch und Blut und sich außerhalb seiner Werke nur stammelnd äußern kann, war geboren.
Den Archetypus eines solchen schüchternen Dichters, der ganz hinter seinem Text verschwindet, stellt Cyrano de Bergerac dar – nicht die historische Persönlichkeit aus dem 17. Jahrhundert, sondern die fiktive Figur aus dem gleichnamigen romantischen Versdrama von Edmond Rostand, einem der meistgespielten französischen Dramen überhaupt, das auch als Vorlage für die populäre Verfilmung mit Gérard Depardieu diente. Der Protagonist dieses Rührstücks, der Dichter und Degenheld Cyrano, ist bei seinen Auftritten in der Pariser Gesellschaft zwar durchaus nicht blöde, sondern im Gegenteil ein rechter Draufgänger − sobald es aber darum geht, der von ihm angebeteten Roxane seine Gefühle zu offenbaren, ist er befangen wie ein pubertierender Knabe: «Vor jedem Liebestraum», gesteht er, «Ließ mich die Furcht vor Spott erbeben.»
Gemäß den psychologischen Vorstellungen der Zeit wird Cyranos Schüchternheit maßgeblich auf seine äußere Hässlichkeit, vor allem auf seine überdimensionierte Nase zurückgeführt («Das Hauptkontingent zu den Schüchternen», heißt es in einem wenige Jahre nach Rostands Erfolgsstück erschienenen Schüchternheits-Ratgeber, «stellen Personen, die mehr oder weniger körperlich degeneriert sind»). Cyranos Nebenbuhler Christian ist zwar deutlich attraktiver, aber leider ebenfalls schüchtern, da es ihm an der für die komplizierten höfischen Balzrituale notwendigen Gabe zur Rede gebricht: «Ach, um den Feind zu treffen nach Gebühr,/ Reicht’s wohl noch aus», beklagt er sich Cyrano gegenüber über seinen Mangel an Esprit, «Doch als ein blöder Wicht/ Verstumm’ ich vor den Frauen.» In bis an die Selbstkastration grenzender Opferfreudigkeit verlegt Cyrano sich fortan darauf, Christian sein eigenes dichterisches Talent zu leihen, und lebt seine Liebe fürderhin in Alexandrinern aus, die er für seinen Nebenbuhler schreibt. Selbst die Liebesschwüre, die Christian auf dem Sterbebett hinterlässt, stammen aus Cyranos Geist und Feder; erst kurz vor seinem eigenen Tod verrät Cyrano sich im Fieberwahn und gesteht Roxane seine Liebe, die zeit seines Lebens nur im Text stattfinden konnte. «Doch eher sterb’ ich», hatte er schon zu Beginn des Stücks prophetisch verkündet, «Als daß ich redend ihr mein Innres zeige./ Doch schreibend − ja!»
Der Text ersetzt bei Cyrano also den Sex, der Korpus des dichterischen Werks tritt bei ihm an die Stelle der körperlichen Liebe; ja in gewisser Weise verdankt sich seine Dichtung womöglich sogar seiner Verklemmtheit: Erst die «Triebsublimierung», so Sigmund Freud in Das Unbehagen in der Kultur , «macht es möglich, daß höhere psychische Tätigkeiten, wissenschaftliche, künstlerische, ideologische, eine so bedeutsame Rolle im Kulturleben spielen.» Nur wer sich in Verzicht übt, muss und kann seine Triebziele auf ästhetischer Ebene sublimieren. Wer ständig seine Gefühle hinausschreit, muss nicht schreiben; wer selbstbewusst immer gleich alle Frauen anspricht, wird selten in die Verlegenheit kommen zu dichten.
Seine Befangenheit macht Cyrano nicht nur zum romantischen Dichter par excellence, bei dem (Liebes-)Leben und Werk untrennbar ineinander übergehen – sie macht ihn auch zum Schutzheiligen aller Schüchternen, die sich in seiner tragikomischen Person und Lage wiedererkennen: Sein Name wird heute sowohl von einem Softwareprogramm, das automatische Liebesbriefe generiert, in Anspruch genommen als auch von einer Anwendung für Smartphones, das sozialängstlichen Menschen ein ähnliches Schicksal wie das des armen Haudegen ersparen soll. «Also, schüchtern und alleine war gestern», wirbt die Firma, welche die Anwendung vertreibt, für ihre Dienste, «denn Dank der Cyrano Flirtsprüche App bist Du nie um einen coolen Spruch verlegen, und Dein Traumpartner ist nur einen Spruch entfernt.»
Ob solche Worte aus der Dose tatsächlich einen ähnlichen Erfolg zeitigen wie ehedem die Alexandriner des Cyrano, sei dahingestellt – fest steht, dass die neuen, digitalen
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