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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
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andere Rolle ein. Manchmal geht er weg und kocht Kaffee. Die meiste Zeit aber sitzt er in seinem Ledersessel und starrt auf die Leinwand. Ich frage mich, warum er bestimmte Szenen wieder und wieder ansieht. Als suche er etwas. Als präge er sich etwas ein. Sein Sessel, das sehe ich jetzt, hat ein zu kurzes Bein. Würde der Kerl nicht ständig mit dem Sessel wippen, hätte ich ihn vielleicht nie bemerkt.
    Die Bahn kommt zischend zum Stillstand, Leute steigen aus und ein, der Waggon wippt in den Gleisen. Erst surrend, dann heulend, setzt die Bahn sich wieder in Bewegung, Abteil um Abteil rauscht zurück in den Bauch der Innenstadt. Wenn ich die Augen schließe, liegt zwischen zwei Stationen eine kleine Ewigkeit. Raum und Zeit sind bei geschlossenen Augen nicht mehr dieselben. Die größte Raumkrümmung, denke ich, wird durch Gedanken verursacht.
    Mit dreizehn glaubte ich, den Göttern zu gehören. Fühlte ihre bitterscharfen, stahlblanken Krallen. Hörte ihr unterkühltes Gelächter und glaubte, niemals einem Mann gehören zu können, weil mich bereits die Götter besaßen. Und so, besessen, stürzte ich mich in die Musik, in das Einzige, womit die Götter einverstanden waren, in das Einzige, was ich konnte. Mit fünfzehn hatte ich meinen ersten Freund. Die Musik und die Götter schwiegen für ein halbes Jahr.
    Mein Freund studierte atmosphärische Dynamik, hatte eine eigene Wohnung in der Stadt und trug graue Kapuzenpullis. Abwechselnd hungerten wir nacheinander oder ekelten uns an. Wenn du ein Sturm wärst, sagte er, würdest du Camille oder Katrina heißen. Seine Behauptung fiel, während er ziellos in einer Schüssel Zitronenjoghurt rührte. Ich hörte zu, gegen seinen Kühlschrank gelehnt, und kippelte mit meinen silbernen Ballerinas auf einer losen Bodendiele herum. Ich wartete. Unter seiner Schüssel lag eine ganze Liste von Namen, mit Jahreszahlen, Todeszahlen, und vielen anderen Zahlen, die wohl Wetterdaten sein mussten. Er las sie wie einen Roman. Ich drehte mich um zu seinem Kühlschrank, an dem ein großes Set Magnetbuchstaben haftete, und bildete einen Satz. Fick heute lieber dein Joghurt. Ich setzte meine Sonnenbrille auf, schlich mich aus dem Haus und ging allein in die Stadt.
    Wenn wir miteinander schliefen, zählte mein Kopf unwillkürlich mit. Eins, zwei, drei, Sofanummer, Fensterbrettsex, Matratzentango. Beim siebten Mal verlor ich die Übersicht und freute mich. Endlich war es nicht mehr mein erstes, zweites oder drittes Mal, sondern einfach nur Sex. Und eigentlich war es immer so. Ab sieben wurde alles zahllos. Die Trips ans Meer, die Auftritte, die Männer, mit denen ich schlief. Hätte nicht irgendwer an jedem meiner Geburtstage mitgezählt, wüsste ich auch mein Alter nicht.
    Nachdem der Wetterstudent mich verlassen hatte, kamen die Götter zurück. Mit Schuppenpanzern und Hyazinthen im Haar. Mit Pauken und Trompeten. Mit Ambrosia und Giftflaschen. Dass sie mich umschlichen, war nicht länger zu leugnen. Sie waren anwesend wie nichts anderes. Oft ließ ich mitten in einer Gesellschaft mein Getränk und mein Gegenüber stehen und rannte in die Nacht hinaus, weil sie mich riefen. Ihr Ruf ist so, dass man folgen muss. Wer ihn vernimmt, folgt ihm. Wer ihm nicht folgt, vernimmt ihn nicht. So einfach ist das. Dann stand ich stumm vor ihnen. Manchmal weinte ich.
    Eine rote Halbakustikgitarre und eine Thermoskanne Tee wurden meine ständigen Begleiter. Meine Musik begann zu wachsen, alles in meinem Kopf, ich schrieb nie etwas auf. Eines Tages wurde ein Lehrer neugierig. Obwohl ich kaum Noten lesen konnte, wollte er mich für seine Schulband. Ich ging genau zweimal zur Probe. Das grobe Geschrammel der Band frustrierte mich. Nach dem zweiten Treffen verschwand ich ohne Verabschiedung und kam nie wieder. Meine Wünsche waren groß, dreist, hungrig. Ich fühlte mich gefangen, die Schule langweilte mich, die meisten Menschen auch. Musik musste fokussiert und kristallin sein, ein guter Schliff im Gneis der Zeit. Ich wollte mich an der Welt entlanghören, so dicht wie möglich. Was die Jungs in der Schulband wollten, wusste ich nicht.
    Dem Lehrer blieb ich eine Erklärung für mein Fernbleiben schuldig. Er ahnte wahrscheinlich, was mich plagte, und schlug vor, mir Einzelunterricht zu geben. Aber ich wollte lieber meine Ruhe. Ich dämmte meine Zimmertür mit Schaumstoffmatten und Eierkartons, nahm die rote Gitarre und schloss mich ein. Heraus kam ich erst wieder, wenn ich wunde Finger oder ein siegreiches

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