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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
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wohnt, die Myrte. Ich sah das kleine Ding vor drei Wochen auf dem Markt und wollte es haben. Seine Blätter und Zweige drängten sich schüchtern aneinander. Es sei ein wenig empfindlich und brauche Sonne bis Halbschatten, sagte der Gärtner. Dass es überall winzige Knospen hervorschob, bemerkte ich erst ein paar Tage später. Ich hatte noch nie Myrtenblüten gesehen und sah absichtlich nicht im Pflanzenlexikon nach, wie sie aussehen würden. Die Pflanze sollte mich überraschen. Jetzt streckt sie ihre weißen Puschelblüten in die Luft, sieht ganz glücklich aus.
    Ich gehe ins Bad und fülle mein Glas mit Wasser. Die Hälfte davon trinke ich auf dem Rückweg in mein Zimmer. Neulich habe auch jemand versucht, Gift ins Trinkwasser zu mischen, hieß es in den Zeitungen. Es war jedoch zu wenig Gift und fließe nun fein verdünnt durch die ganze Stadt. Ob der Anschlag auf die Schnellstraße damit zusammenhänge, sei nicht geklärt. In Gedanken danke ich allen Vergiftern, dass sie uns schön langsam gegen alles Mögliche abhärten. Am Grund meines Glases tanzt eine hellrote Saftschliere. Mit einer Bewegung des Strohhalms löse ich sie auf.
    Ich setze mich an den Monitor, der Phosphortunnel verlöscht, und ich streife durchs Netz. Ich sehe mir Bilder von japanischen Tempeln und New Yorker Restaurants an. Lese Rezepte zu Gerichten, die ich nie kochen werde. Versuche, mir die Namen der verschiedenen Sushi einzuprägen. Seiten um Seiten erstrecken sich, bunt und weitläufig. Ich verfolge ein paar Bilder lang das Treiben am Flughafen über die dortigen Webcams. Gebe Wörter wie Blaubart, Mondkalb und Scheintod bei der Bildersuche ein. Durchkämme Online-Lexika. Die Myrte, lese ich, ist zweihäusig. Das bedeutet, dass auf einer Pflanze entweder nur männliche oder nur weibliche Blüten vorkommen. Xenogamie, lese ich weiter, die Bestäubung zwischen zwei Blüten genetisch nicht identischer Pflanzen. Die Fliege kommt jetzt manchmal auch auf meine Hand.
    Es klopft an meiner Zimmertür, einmal, zweimal. Ich mache mich bemerkbar. Lutz kommt herein und möchte etwas sagen. Seine Hand streichelt meine Türklinke, seine Froschaugen werden größer und größer, seine Stimme stockt. Das ist schon lange nicht mehr passiert, er stottert nur noch selten. Das Unausgesprochene auf seiner Zunge, auf seiner Unkenzunge, denke ich, ruckelt lautlos in den Raum. Er lächelt verlegen. Ich lächle auch.
    »Borg und Matti gehen frühstücken in der Stadt«, kommt schließlich aus ihm heraus.
    Ich schüttle dankend den Kopf. Er nickt und verschwindet.
    Mein Nachthemd ist lindgrün und mit winzigen Blüten bedruckt, am Saum rosa Rüschen, solche Nachthemden habe ich als Kind getragen. Wenn ich kindische Nachthemden trage, fällt mir das Aufwachen schwer. Aber Umziehen hilft heute nicht. Weder das graue Baumwollshirt noch der grüne Sommerrock geben mir ein Gefühl von Wachheit, auch keine meiner Hüfthosen und nicht die Häkelweste, die wie ein Konglomerat aus bunten Topflappen aussieht. Ich schließe meinen Kleiderschrank. Aus einem Spiegeloval gegenüber sieht mich ein halbnacktes Mädchen an. Ihre Schultern sind schmal und kantig. Ihre Stirn ist hoch. Der Kleiderschrank ist eine Orgel, denke ich, mit Farbregistern, Stilregistern, Saisonregistern. Ich weiß nicht, welchen Ton das Mädchen treffen will. Wir sollten improvisieren. Ich öffne den Kleiderschrank ein letztes Mal.
    Gestern Nacht schlief ich mit einer untergründigen Begierde ein. Ich hatte an dich gedacht. Ich hatte an Lutz und sogar an Matti gedacht. Heute Morgen lagen die Nachtträume wie erschöpfte Hunde um mein Bett.
    An einen der Träume erinnere ich mich. Ein Kaufhaus mit goldenen Geländern und Marmorböden, ein riesiger Komplex, geschmackvoll beleuchtet, voller Restaurants, Kinos, Modegeschäfte, Massagesalons. Alles war kostenlos und unbegrenzt, überall wurde bedient und hofiert. Ich kam an einem Feinkostladen vorbei, der Süßigkeiten in Form von Schachfiguren anbot. Die Kinos warben für Filme, von denen ich nie gehört hatte. Im Grunde ein Ort, der mir gefallen hätte. Allerdings gab es keinen Ausgang. Die Rolltreppen, die die Stockwerke verbanden, führten alle nur aufwärts. Ich drehte eine Runde durch die verwirrende Vielfalt. Nahm wieder eine Rolltreppe nach oben. Jemand hielt mir einen Bund tintenblauer Trauben entgegen. Ich nahm sie, aß davon und bestieg eine weitere Rolltreppe. Ich drehte eine weitere Runde. Ein kleiner Junge mit einem Luftballon kam mir entgegen. In

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