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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
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dem Luftballon bewegte sich etwas, eine kleine menschliche Gestalt. Ich konnte die Augen nicht von dem Luftballon lassen. Während der Junge in der Menge verschwand, schwebte sein Ballon noch eine Weile über den Köpfen, die kleine Gestalt darin taumelte hilflos. Irgendwann warf ich die Trauben weg. Es gab keinen Weg nach unten. Ich fuhr ins nächste Stockwerk. Dasselbe Spiel. Alles ging immer nur aufwärts.
    Schließlich fand ich einen Brunnen. Dutzende von Strahlern waren in den Grund des türkisfarbenen Beckens eingelassen. Das Licht an der Decke schwamm mit der Bewegung des Wassers. Ich blieb stehen. Weiße Gipsfiguren umringten das Geplätscher. Ich suchte Peter Pan, aber natürlich war er nicht da. Ich setzte einen Fuß in das Becken. Niemand bemerkte mich. Ich setzte den zweiten Fuß ins Becken und legte mich ins Wasser. Von unten flutete das Licht an mir vorbei. Mein Kopf wurde klarer. Ich wachte auf.
    Das Träumen war anstrengend. Vielleicht kann ich deshalb nicht aufwachen und hänge mit nebligen Augen im Internet. Ich klicke mich durch eine Seite, die Krawatten aus Echthaar anbietet, zwischendurch leere ich mein Postfach und lande schließlich im Blog eines Programmierers. Bald wird das Telefon klingeln, denke ich, und dann werde ich wirklich wach werden. Ich starte wieder den Phosphortunnelflug.
    Ich sauge durch den Strohhalm den Mund voll Wasser und lasse es langsam in den Blumentopf der Myrte tröpfeln. Die nassen Inseln versickern schnell. Ich gieße die Pflanze noch zweimal oder dreimal auf diese Weise, die mir intim vorkommt wie ein Kuss. Es gefällt mir, vom selben Wasser zu trinken wie meine Pflanze.
    Im Fenster steht der frisch gewaschene Himmel. Tief unten höre ich Autoreifen durch Pfützen rauschen. Das Licht ziseliert Reflexionen auf die nassen Dächer. Weil es so hell ist, werde ich einen Anruf erhalten. Von einem Fotografen, denn das Licht ist gut. Aber als das Telefon klingelt, ist es nicht der Fotograf, sondern mein Verlobter. Ich erschrecke. Der Hörer wird ein schlüpfriger Gegenstand in meiner Hand, ein leises Fiepsen setzt ein. In der Telefonmuschel, denke ich, oder in meinem Ohr. Ich will nicht an meinen Verlobten denken. Ich sage wenige Worte und lege auf.

Gegenlicht
    Mein Verlobter ist derjenige, den du im letzten Winter mit sauberen Schnitten aus meinem Kopf amputiert hast. Wie reifes Obst vom Baum fiel der Mann von mir ab. Ich sollte ihn nicht mehr meinen Verlobten nennen. Weiß ja nicht einmal, ob wir je richtig verlobt waren. Wir spielten ein Spiel, und deshalb kenne ich seine Hemdgröße und seine Eltern. Deshalb habe ich seinen Ring. Der liegt in einer schiefen Birnholzkiste, die mein Verlobter selbst geschnitzt hat, und wartet dort auf mich. Seit Monaten habe ich ihn nicht angerührt. Ich atme die helle Luft ein. Ich will nicht an meinen Verlobten denken und tue es trotzdem.
    Er ist Brite, Linguist und fast so klein wie ich. Er weiß sehr genau über die Vorteile eines feinen irischen Nieselregens gegenüber einem Londoner Regenguss Bescheid. Neben seinem Hilfsjob an der Uni fertigt er Zeichnungen für ein Bilderlexikon an. Der Verlag schickt Wortlisten, und mein kleiner Brite verwandelt jedes Wort in ein Zeichen aus schwarzen Linien.
    Die Zeichnungen ausdruckslos zu halten, sagte mein Verlobter, sei das Schwerste daran. Insgeheim würden sich Stimmungen, Bewegungen, Bedeutungen einschleichen, die über das eigentliche Wort hinausgingen. Er habe gelernt, sie auf einen minimalen Hauch zu reduzieren. Manchmal benutzte er mich als Testperson. Er zeigte mir eine Zeichnung, ich sagte ein Wort. Sagte ich genau das Wort aus seiner Liste, war er zufrieden. Er zeichnet sehr gut, und ich frage mich, warum er nie etwas anderes als diese Lexikonbilder gezeichnet hat.
    Das Schlafzimmer meines Verlobten hatte ein großes und ein kleines Fenster. Das große Fenster war Tag und Nacht mit einem schwarzen Tuch verhängt. Vor diesem Tuch fand ich mich eines Morgens, blassen Gedanken nachhängend, mit einem Finger im Aschenbecher, die Asche zu einer flachen Mondebene zerdrückend. Der graubestäubte Finger wanderte über meine Stirn, meine Nase und malte einen schlackigen Buchstaben auf meinen Handrücken. Erst als die Aschespur auf die Narben meines Unterarms hinunterlief, hörte ich auf, erschrocken. Die Augen meines Verlobten forschten ängstlich in meinem Gesicht, als erwarte er Antwort auf eine Frage, die er nie gestellt hatte.
    In diesem Moment fiel das schwarze Tuch herab, und wir

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