Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
Vom Netzwerk:
werde, denke ich immer nur an das Allernächste. An blätternden Lack, an rissigen Boden, an zersprungene Scheiben. An Orten, wo vieles auseinanderbricht, fühle ich mich wohl. Vielleicht, weil ich mir dort nicht vorstellen muss, wie die Dinge auseinanderfallen, sondern ihnen dabei zusehen kann. Ein Stuhlbein liegt auf dem Boden, ein trübes Laborglas. Der Bildhauer scheint außerdem eine Vorliebe für alte Schiffstaue zu haben. Ein großer Haufen davon liegt neben seinen Skulpturen. Ich ziehe eine Trosse von der Dicke meines Oberarms hervor und lege sie um meinen Hals. Der Fotograf bewegt sich im Kreis um mich herum und sammelt schussweise Licht ein.
    Ich weiß, wie ich aussehe, von hinten, von links, von oben, überhaupt von außen. Nicht wie ein Spiegel es wüsste, auch nicht wie meine Augen, sondern wie die Linse eines Fotografen. Ich habe viele Fotos von mir gesehen. Ich weiß, wie es sich anfühlt, so oder so auszusehen. Ich neige ein wenig den Kopf, ein Sonnenstrahl nestelt in meinem Haar, das armdicke Tau drückt mir Muster in die Haut. Ich halte durch, bis der Fotograf sagt, dass ich es runternehmen kann.
    Jeans und alte Turnschuhe zu tragen hat eine völlig andere Qualität nach ein paar Stunden mit dem Fotografen. Sich nach dem Posieren, dem Gliederstrecken, dem ungenierten Sichtbarsein nicht nur langweilig und erschöpft zu fühlen, sondern es auch sein zu wollen. Mit hängenden Schultern schlürfe ich meine Vanilla Coke. Der Fotograf bestellt ein großes Schinkenomelette für mich.
    Dass ich meine Schlüssel vergessen habe, bemerke ich erst, als ich nach Hause zurückkomme. Zum Glück ist Lutz da und öffnet mir. Ich erwarte goldene Froschaugen, eine warme Dusche aus stockenden Worten, aber stattdessen hüllt er sich in vertrauliches Schweigen. Ein weiteres Blinzeln seiner Nickhäute, und er verschwindet in seinem Zimmer. Ich trotte in die Küche. Für heute, denke ich, gebt mir Beethovens Klaviersonaten und ein Glas Wein, und ich bin glücklich.

Azaleen
    Im Briefkasten finde ich eine Postkarte. Statt eines Motivs ist die Vorderseite mit Blütenblättern beklebt, die unter Klebestreifen stecken und sich zu lösen beginnen, brechen, bröckeln. Ich erkenne sie sofort. Es sind Azaleen vom Ostbalkon eines Altbaus mit Eichenparkett. Ich halte die Karte ins Licht. Für einen Mann in Anzug und Krawatte ist diese Postkarte ein überraschend sentimentales Zeichen. Könnte auch Teil der Taktik sein. Ich drehe die Karte um. Auf der Rückseite steht eine Mobilfunknummer. Das wiederum ist so gewöhnlich, dass ich beschließe, diese Nummer nicht zu wählen, heute nicht und nie. Ich klemme die Karte unter den Rahmen meines großen Spiegels, mit der Blütenseite nach vorn.
    Mein Tee dampft weiße Schnörkel in die Luft. Ein Häufchen Flyer der vergangenen Woche liegt als Untersetzer unter der Tasse. Wir hatten drei passable Konzerte im Norden. Seit ein paar Stunden sind wir zurück. Ich lege mich ins Bett und schlafe nochmals ein.
    Gegen Spätnachmittag besuche ich meine Französischlehrerin. Sie sitzt im Garten und sieht auf ihrem gusseisernen Stuhl wie eine Brunnenfigur aus. Als ich näher komme, sehe ich, dass sie sich über eine Ausgabe der Werke des Marquis de Sade beugt.
    »Assieds-toi!«, sagt sie freundlich, obwohl kein zweiter Stuhl zu sehen ist.
    Aus dem niedrigen Flechtzaun ihres Gartens ragen ein paar kräftige Pfosten hervor. Ich setze mich auf einen davon. Erkundige mich nach der neuen Schülerin. Saskia mache Fortschritte, meint die alte Dame und schlägt eine Konversationsstunde zu dritt vor. Ich bin einverstanden. Ich muss die Germanistin ohnehin näher kennenlernen, wenn sie meine Freundin werden soll, wenn ich ihr ein Lied schreiben will.
    Auf dem Rückweg mache ich einen Abstecher in die Weststadt. Vor einer weißen Altbaufassade bleibe ich stehen. Hier wohnt der einsame Anzugträger, hier duften seine Azaleen vor sich hin. Ich weiß nicht, was mich treibt, zur Klingel zu gehen und das goldene Knöpfchen zu drücken. Blaum, steht da in gravierten Lettern. Eigentlich erwarte ich, dass niemand zu Hause ist.
    Der Türöffner surrt. Mir fällt das schwarze Glasauge auf, das über der Tür angebracht ist, eine Kamera. Mein Anzugträger muss mich gleich erkannt haben. Ich tripple hinauf in sein Stockwerk, er lässt mich herein. Er ist tatsächlich überrascht, mich wiederzusehen, zumindest tut er so. Er fährt sich mit der Hand über Augen, Stirn und Haar. Letzteres ist straßenkaterblond und lichtet

Weitere Kostenlose Bücher