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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
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Sekundenpanik, Blitzfieber ergreift mich. Was mich nach fünf beengten Herzschlägen rettet, ist einer von Nestors Kunstgriffen. Ein massiver Beat schiebt sich unter meine Sohlen, gibt Halt. Eine filigrane Melodie rankt sich meine Beine hoch, lässt sie trippeln, schlurfen, driften. Irgendwo darüber schwebt der Schrei eines großen Vogels, einer meiner liebsten Tracks beginnt. Als hätte Nestor gewusst, was ich jetzt brauche. Ich schließe die Augen, tanze, tanze. Der Vogelschrei umspannt die Weite eines riesigen Azurhimmels. Die schwarze Giftspinne dagegen ist nur ein Haustier im Terrarium, sage ich mir. Solange ich meine Hand nicht hineinhalte, sollte alles in Ordnung sein.

Lipglosslippen
    Vermutlich hat die Vierergruppe sich in einer weniger beschallten Ecke niedergelassen. Ich mache mich auf die Suche. Eine schweißnasse Strähne baumelt auf meiner Stirn. Ich hatte genug von Nestors ausgefeiltem Aufputschmix. Die Reflexionen in den Cocktailgläsern stechen in meine Augen wie kleine Sterne, über den Kirschen, Melonenschnitzen und Limettenstücken schweben die Gesichter der Leute, ihre Augen funkeln und rollen, ihre Münder öffnen und schließen sich. Unter meinen dünnen Schuhsohlen fühle ich jede Unebenheit des abgeschabten Parketts.
    Ich finde die Tabakblonde und dich, Peer und die Paillettenfrau in einem Nebenraum. Der zweite Cocktail war tatsächlich für dich. Die Tabakblonde hat ihn vor dich hingestellt und klaubt nun imaginäre Fusseln von deinem Hemd. Ihre Berührungen sind wie heißkalte Finger auf meiner eigenen Haut. Ich stehe still, horche auf die Musik und das Zirpen in meinen Ohren. Der Schmerz hat klare Umrisse und eine barocke Schnörkelform. Wenn ich ein Blatt Papier hätte, könnte ich ihn zeichnen. Es ist mein Schmerz und niemandes sonst.
    In dem Moment streift mich dein Blick. Und obwohl sich unsere Blicke nur eine halbe Sekunde lang treffen, berührst du mich, mit der Aufmerksamkeit, mit der Festigkeit eines Handschlags. Es gibt Menschen, deren Augen keinen Widerstand bieten, man gleitet hinein, hinaus, endlos leerer Raum. Deine Augen sind anders, sind lebendig, bewohnt, bereit zum Widerspruch.
    Vielleicht wegen dieses Blicks perlt eine Leichtigkeit in mir herauf, sogar Übermut. Am liebsten würde ich mir die Unverschämtheit erlauben, dich nochmals zu küssen, vor den Augen der Feinkostfrau, Unruhe stiften, Fragen aufwerfen. Ich muss lachen, eine irrwitzige Euphorie, quirlig und verspielt, eine kringelige Kinderlaune, ich muss mich beherrschen, nicht vor Aufregung auf der Stelle zu hüpfen. Ich verharre in dieser seltsamen Seligkeit und lausche auf die Signale meines Körpers. Ich muss wohl ein verblüfftes Lächeln im Gesicht haben. Eine Bedienung eilt vorbei und sieht mich fragend an. Ich winke freundlich ab. Meine Stimmung ist plötzlich ein goldener Sommerhimmel, Gold mit einem Schuss Hochmut.
    Wie eine Schwalbe unterm Dach hervorschnellt, so stoße ich mich ab, gehe endlich hinüber. Angst habe ich trotzdem. Es ist dasselbe Herzklopfen, das mich auf der Bühne überfällt, auf einer leeren Tanzfläche, im Rampenlicht. Ich habe tatsächlich Lampenfieber wegen Damla. Ich atme tief durch, die Schwalbe zieht eine Luftschlaufe, gleitet weiter. Ich bin gespannt, welche Rolle ich in diesem Film haben werde.
    Deine Augen empfangen mich. Du stellst mich vor. Damla sagt, dass sie mich auf einem Plakat gesehen habe. Sie rückt näher an dich heran und legt ihre Hand auf deinen Schenkel. Pärchengehabe, denke ich. Ich muss gegen einen bösen Scherz ankämpfen, der mir auf der Zunge liegt. Ich fange deinen Blick auf. Nicht dein Ernst, spotten meine Augen.
    Ich beginne über Musiktechnisches zu reden, Dinge, über die Tabakblond und Paillettenkleid eher wenig wissen. Du nimmst den Faden auf. Zu sehen, wie deine Begleiterin sich langweilt, bereitet mir heimliches Vergnügen. Zu höflich, um nicht interessierten Blicks über deinem Schoß gebeugt zu verharren, erträgt sie unsere Fachsimpeleien. Als Nestor vorbeikommt, geht Damlas Gesprächsschiff endgültig unter. Ihr Kopf sinkt an deine Schulter, in ihren Augen kehrt Ebbe ein, Müdigkeit. Die Paillettierte hält unterdessen ein Gespräch mit Peer am Laufen, ignoriert jetzt kokett Nestors Anwesenheit. Reihum nippt jeder an seinem Cocktail, außer mir, ich habe keinen.
    Bald halten nur noch Nestor und du die Gesprächsfäden. Überraschend taucht Damla aus ihrem Halbschlaf auf und stellt eine Frage. Nestor erklärt ihr seinen Job in ein paar

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