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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
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sich das kalte Silberlicht von draußen.
    Über glitschiges Kopfsteinpflaster und Taubenmist stapfe ich zurück nach Hause. Die zwei pinkfarbenen Papiere in meiner Tasche reiben aneinander. Zwischen meinen Fingern verlieren sie Festigkeit und Form.

Rotkehlchen
    Ein gemessenes Hallo dringt aus dem Hörer und kriecht direkt in meine Magengegend. Ich war gerade, einen Gitarrenkoffer in jeder Hand, die Stufen zu meinem Zimmer hochgepoltert, als das Telefon klingelte. Die Männerstimme am anderen Ende versetzt mir unvermittelt einen Stich. Ihre Tiefen, ihre kleinen Rauheiten und die Erinnerung an all die anderen Worte, die mir diese Seemannsstimme schon gesagt hat, streichen wie ein Knäuel schnurrender Kater um die Beine.
    »Rotkehlchen«, brummt Blaum durchs Telefon.
    Mir ist, als könnte ich in seine Meeraugen sehen, den Geruch seiner Hemden atmen, den feinen Hosenstoff fühlen, mein Bein über seines legen. Ich murmle seinen Namen in die Sprechmuschel und korrigiere mich schnell. Der Breitnacken mag es nicht, wenn ich ihn beim Nachnamen nenne. Er ahnt nicht, wie viel vertrauter mir sein blaumiger, flaumiger Familienname ist, blau wie seine Karohemden, bauchig wie sein Dekantiergefäß.
    »Rotkehlchen«, sagt er nochmals und diesmal in völlig anderem Tonfall, schnell und bestimmt. Mit wenigen Worten lädt er mich auf einen Rehbraten ein, den er eigenhändig zu machen gedenke. Er habe keine Lust, den mit seinen Kollegen, mit seiner Schwester und ihren Bälgern oder mit der Doktorandin aus der Personaletage zu teilen. Obwohl er sich sicher sei, dass zwei Drittel übrig blieben, wenn er mich einlade, und er den Rest wegwerfen oder einfrieren müsse, wolle er lieber mir beim Vogelpicken zusehen, als sonst irgendwelche Mäuler zu stopfen. Mehr aus Verworrenheit als aus Rehbratenlust nehme ich die Einladung an.
    »Das freut mich«, sagt Blaum.
    Ich überschlage die Wochen, in denen ich Blaum nicht gesehen habe. In denen ich ihn vergessen habe wie eine alte Dose Thunfisch, die ins hinterste Eck des Kellerregals gerutscht ist. Ich kann nicht sagen, ob es vier, fünf oder sieben Wochen waren, der kurze Anruf letztens war der einzige Kontakt seither. Bestimmt hat der einsame Stier in meiner Abwesenheit ein paar Nutten beschäftigt, denke ich, und Sehnsucht klatscht wie ein platzender Wasserballon gegen die Innenwände meines Körpers. All das Vermissen, das ich in diesen vier, fünf oder sieben Wochen nicht gespürt habe, sickert kühl und langsam auf meine Herzhaut durch. In der Leitung knirscht etwas.
    Drei Tage später streune ich die mit Buchsbäumen flankierte Auffahrt hoch. Eine Amsel torkelt über den Grat einer weinumrankten Mauer, hat offensichtlich zu viele überreife Früchte intus. Ich grüße sie mit einem leisen Pfiff. Sie gurgelt ein verwirrtes Vogelwort.
    Ich drücke den goldenen Klingelknopf. Binnen Sekunden tönt dasselbe gemessene Hallo aus der Sprechanlage, das mich schon vor drei Tagen verführte. Aus dieser Stimme, denke ich, würde ich mir gern einen Morgenmantel schneidern. In meinem Bauch flattert ein Libellengeschwader, als ich meine Hand auf den goldenen Türknauf lege. Sachte, sachte, sage ich mir. Ich werde die kommende Nacht im Mantel dieser Stimme verbringen. Niemand nimmt sie mir weg. Der Türöffner surrt.
    Oben empfängt mich Blaum mit einem Glas Kir Royal. Er hat Handtücher und Badeöl bereitgelegt, für später, und aus der Küche dringt bereits der nussige Wildgeruch. Nichts, denke ich. Ich habe nichts von alledem verdient. Mein Zwerchfell flattert. Meine Mundwinkel verzerren sich unkontrollierbar nach oben. Ich kämpfe gegen einen hysterischen Lachanfall an. In Notwehr klaue ich einen von Blaums kräftigen Zigarillos und verschwinde auf dem Balkon. Das Lungengift beruhigt mich ein wenig.
    Auf der Straße springen die altmodischen Weststadtlaternen an. Sie tauchen die Häuserfassaden in ein unwirkliches Licht, das sie gegen den nüchternen Herbsthimmel abhebt, eine käsegelbe Theaterkulisse. In den Vorgärten und Hofeinfahrten, wo sich Laub zu sammeln beginnt, sitzen violette Schatten. Irgendwo unter mir raschelt es. Die betrunkene Amsel pickt weiter nach Beeren. Sie wird weitermachen, denke ich, bis sie von der Mauer fällt.

Vogelbeeren
    An Blaum sattgepickt oder einfach so erschöpft, dass ich meine Sehnsucht vergessen habe, verlasse ich gegen fünf Uhr morgens die Weststadtvilla. Nicht Kälte oder Übermüdung, sondern ein Anflug von Euphorie schüttelt meine Schultern. Sie keimt

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