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Schüchternheit der Pflaume

Schüchternheit der Pflaume

Titel: Schüchternheit der Pflaume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F Kanzler
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grundlos an der Wurzel meiner Wirbelsäule auf, rankt sich an dieser nach oben, kriecht ausschweifend nach links und nach rechts. Zwischen meinen Schulterblättern beginnt sie seltsame Blüten zu treiben, ein Paar wildwüchsiger Flügel.
    Die Luft kringelt sich in kleinen Spiralen in meine Lunge. Ich sauge sie literweise ein. Schon höre ich meine Krautschwingen rauschen, schon hebt es meine Fersen vom Boden. Zumindest fühlt es sich so an.
    Ein plötzlicher Ruck rammt mir die Luftspiralen aus den Lungen. Unerwarteter Schmerz macht sich dort breit, wo noch vor kurzem meine Flügel saßen. Ich lande unsanft auf dem Asphalt. Das Rauschen geht über in ein Raunen und Schlurfen. Melonengroße, beschlagene Schuhkappen stampfen vor mein Gesicht. Ich rapple mich auf, denke, jemand hat mich aus Versehen angerempelt, von hinten über den Haufen gerannt.
    Geblendet durch das Licht einiger heranrollender Autos sehe ich zunächst nur Umrisse. Zwei Wollmützen, zwei hochgeschlagene Kragen, vier stämmige Beine. Keine zur Entschuldigung ausgestreckte Hand. In den Schuhen spiegeln sich die Scheinwerfer der Autos, die vorbeirollen und verschwinden. Zurück bleibt nur das käsegelbe Laternenlicht. Als ich mich komplett aufrichten will, die Gesichter der Gestiefelten suchen, tritt eine der Schuhkappen mir unvermittelt in die Seite. Ich keuche überrascht. Taumle zurück Richtung Boden.
    »Kleine Bitch«, sagt einer der Typen, »kommt mal wieder vom Ficken. Haste auch paar Pillen geschmissen?«
    Hastig stemme ich mich auf die Beine, bewege mich so schnell ich kann. Zwei, drei Herzschläge lang wird mir schwarz vor Augen, meine Hände fahren haltsuchend durch die Luft. Ich bekomme eine Zaunlatte zu fassen, langsam klärt sich meine Sicht. Einer der Typen grinst, der andere hebt die hässliche Gorillafaust. Schwarzes Leder fliegt auf mein Gesicht zu. Das Wegducken gelingt mir nur halb.
    Ich bin ein Mädchen. Ich bin noch nie verprügelt worden. Der Boden unter mir fühlt sich wirklicher an als sonst, echter, fester. Ich schlage mit den Knien, den Händen, den Wangen darauf auf, ich lasse mein Blut auf den scharfen Steinchen des Asphalts und nehme im Gegenzug ein wenig des Straßenstaubs auf. Blutsbrüderschaft mit der Straße, rote Spuren gegen das schmutzige Grau. Ein weiterer Hieb schleudert mich gegen die Betonrampe einer Garageneinfahrt, kostet mich die Haut an den Handballen. Die blauen Linien an der Innenseite meiner Arme tun weh, mehr weh als die Schläge, wenn ich mir vorstelle, wie der giftige Stadtstaub in mich eindringt. Wie er die Schultern hochkriecht, sich im Körper verteilt. Ich springe auf, stemme meine Füße fest auf den allgegenwärtigen Boden, stoße mich ab, hierhin, dorthin, beginne mit den Schlägen zu tanzen. Der Schmerz lehrt mich, nicht mehr zu fallen, und verstummt.
    Stattdessen fühle ich den Faden, der durch die Finger meiner Schicksalsgöttin haspelt. Mir wird bewusst, wie sehr ihre Handflächen von dem Mistfaden schmerzen, wie wundgerieben ihre Fingerglieder sind. Der Faden läuft nicht gerade, er schlingert. Mein ganzes Leben schon schlingert das verdammte Ding. Ich kann ihr nicht übelnehmen, wenn sie langsam Lust auf die Schere bekommt.
    Zwei breite Schulterpaare drängen mich in eine Nebengasse. Der Prügler packt mich am Arm. Der Grinser hat aufgehört zu grinsen. Plötzlich höre ich das metallische Aufschnappen eines Messers. Butterfly, Butterfly, wispert es in meinem Kopf, der kleine Gegenstand verleiht mir wieder Flügel. Diesmal sind meine Flügel nicht aus Blüten, diesmal sind es echte Flügel, mit Federn groß wie Palmblätter, weiße Sehnen, rotes Muskelfleisch, mächtige Albatrosschwingen. Ein Gottesgefieder, Prachtfittiche, die einen Hänfling wie mich binnen eines Lidschlags in die Höhe reißen. Mit einer Kraft, von der ich nichts wusste, schlagen sie mich frei. Der Prügler stößt einen überraschten Ruf aus.
    Das Rauschen meiner Schwingen betäubt alle anderen Geräusche. Ich höre nicht, ob die zwei Gorillas mir folgen. Ich laufe und laufe. Ich laufe, bis das Blut in meinen Adern zu flüssigem Blei geworden ist. Laufe weiter, bis das Blei sich in Salpetersäure verwandelt hat, und weiter, bis die Salpetersäure als Kerosin in Flammen aufgeht. Beinahe wäre ich weitergerannt, nur um zu sehen, welche weiteren Metamorphosen mein Blut durchmachen kann.
    Ich lasse mich in das Gebüsch einer Verkehrsinsel fallen. Mein Puls sprengt mir fast den Schädel. Alle paar Minuten fährt ein

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