Schützenkönig
Schleife. Die Pappdeckel wurden so nach unten gehalten, der Inhalt der Kiste blieb verborgen. Doch nur ein kleines Zupfen an dem einen Stück Faden, und – tatatataaaaa – das Geheimnis wäre gelüftet, der Schatz gehoben. Marie hockte auf dem Dielenfußboden und rauchte. Sie verrenkte sich beinahe ihren Halswirbel, um an den Volumenregler ihrer Anlage zu kommen, und drehte die Musik lauter. Doris Day sang »Que sera sera«. Marie kritzelte mit einem alten Lippenstift »Für dich, meine traurige Tochter« auf die Seite des Kartons. Dann ließ sie sich nach hinten auf den flauschigen Teppich fallen und schloss die Augen.
Sie stellte sich vor, wie Viktoria die lila Wollschleife öffnen und endlich alles über ihren Vater erfahren würde. Marie hatte die Sachen gut sortiert. Die Fotos, die Geburtsurkunde, Viktorias erste Schuhe, ihren ersten Strampler, das Märchenbuch, das Bernhard ihr kurz vor seinem Tod geschenkt – und aus dem Marie nie vorgelesen hatte. Sie hätte es nicht ertragen. Bernhard musste damals ausgelöscht werden, endgültig. Denn mit jedem Gedanken an ihn krallte sich ihr Schuldgefühl in ihrem Hals und ihrem Magen fest. Sie konnte nicht mehr atmen, nichts mehr essen, nicht mehr leben mit dieser Schuld. Also weg damit. Weg mit den Erinnerungen. Weg mit dem Selbstmord. Weg mit Viktorias Vater. Es gab ihn nicht. Und so konnte er auch nicht gestorben sein, weil sie ihn unter Druck gesetzt hatte. Aus Eitelkeit. Oder vielleicht doch aus Liebe?
Marie hielt die Augen immer noch geschlossen. Und sie sah sich und Viktoria auf dem Küchentisch. Im Radio lief auch damals ihr Lieblingslied. Doris Days »Que sera«. Mutter und Tochter tanzten im Kreis herum wie der Plattenteller, der sich drehte und drehte. Hand in Hand, strahlende Augen. Viktoria war gerade fünf oder sechs, und sie lachte, sie lachte, sie lachte. So fröhlich hatte Marie ihr Kind sehr selten gesehen, und so lachte sie mit, sang mit und wirbelte mit ihr über den Tisch. Viktoria kicherte, drehte sich schneller und verlor das Gleichgewicht. Sie fiel rückwärts von der Kiefernplatte, auf der noch ein eingetrockneter Rest der Müslimilch klebte. Ihr Hinterkopf knallte auf die Küchenfliesen.
Marie hatte nie vergessen, was sie dachte, als sie das Mädchen dort liegen sah. Mit diesem Entsetzen im Blick. Bernie hätte sie aufgefangen, dachte sie. Und: Ich bin schuld. Sie blieb auf dem Tisch stehen und starrte ihre Tochter an, bewegte sich keinen Millimeter wie eine steinerne Statue. Viktoria lag am Boden und sah ihrer Statuen-Mama ernst in die Augen. Dann stand sie auf und ging in ihr Zimmer. Sie vergoss nicht eine einzige Träne. Sie tanzte nie wieder mit ihrer Mutter.
22. Kapitel
Die Flinte links, die Büchse rechts. Ferdinand starrte auf die Waffen. Seine Augen fixierten die Gewehre, als könne er sie damit umtauschen. Doch sosehr er auch starrte und fixierte – die Flinte stand links, die Büchse rechts, und damit war klar: Elisabeth hatte die Gewehre genommen und wieder weggestellt. Falsch herum. Und wieder bekam er diese Angst, die sich direkt in seinen Nacken setzte. Verdammte Kreuzschmerzen, dachte er und beschloss, dass es nun genug sei. Er räusperte sich und machte sich auf den Weg nach oben. Es half nun nichts mehr, sein Schweigen hatte ihn ja nicht weitergebracht. Er würde seine Klappe aufmachen, er würde seine Frau fragen müssen, was sie getan hatte.
Als er die Badezimmertür öffnete, kam ihm eine Wolke tropisches Klima entgegen. Elisabeth bemerkte ihn gar nicht, sie konzentrierte sich auf ihre Wimpern im Spiegelbild, das Radio lief. Ein Nachrichtensprecher sagte: »Vorsicht auf der A1, eine Kühlschranktür auf der Fahrbahn.«
»Heute Morgen lagen Spanngurte auf der A 43, dann liefen Schweine herum und jetzt noch eine Kühlschranktür – wie zum Teufel kommt das ganze Zeug auf die Autobahn?« Ferdinand fiel kein anderer Einstieg ein.
Elisabeth fuhr herum, ein schwarzer Strich Wimperntusche lief über ihre Wange. »Hast du mich erschreckt.« Sie schauten sich an. Eine Sekunde, zwei. »Vielleicht ist ja ein Müllwagen mit einem Viehtransporter zusammengestoßen.« Elisabeth lächelte vorsichtig.
»Also, ich … ich wollte … Mein Gott, der rote Rock passt dir immer noch?«
»Nein. Wieder.«
»Wie, wieder?« Ferdinand verstand nicht.
»Ich habe abgenommen. Keinen Hunger. Weißt schon, wegen dieser Sache.«
Ferdinand nickte und schaute auf seine Hände. »Siehst gut aus.«
Elisabeth ging einen Schritt auf ihn
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