Schuhwechsel: Als Hausfrau auf dem Jakobsweg
mich freundlich
an. Wir unterhalten uns. Gianni heißt der sympathische und der andere, der
gestern noch nackt vor mir lag, heißt Raffaele. Beide sind jeweils 61 Jahre
alt.
„In Italien kannst du mit 60 den Ruhestand antreten und das
haben wir beide getan. Wir sind seit vielen Jahren gute Freunde und reisen sehr
gerne zusammen“, erklärt mir Gianni.
Aha, denke ich, dann dürfte Pietro, der Gigolo mit seiner
Truppe, auch so um die 60 sein. Zu mir hat er gesagt, er wäre 52.
„Und warum den Jakobsweg?“, frage ich die ewige Frage
„Wir sind Italiener“, lacht Gianni, „wir sind religiös,
katholisch und wir müssen quasi irgendwann einmal pilgern, um der Oma,
Mutter, Tante den Seelenfrieden zu bringen.“
Wir lachen alle und ich stelle mir vor, wie seine weibliche
Verwandtschaft täglich einen Rosenkranz für die lieben Pilgerbuben betet.
Dann frage ich Raffaele, wie es ihm heute geht. „Viel
besser“, antwortet dieser, „ich hätte gestern einfach mehr trinken sollen.
Allerdings habe ich mir von meinen beiden Schneidezähnen ein Stück abgebrochen,
als ich gegen die Wand in der Dusche fiel.“
Raffaele hat sehr schöne, gleichmäßige und vor allem noch
echte Zähne. Von Zähnen und Zahnärzten kann ich eine Tragödie in vielen Akten
singen und deshalb tut mir es sehr Leid, dass er sich an zwei Zähnen ein Stück
abgeschlagen hat.
„Gott sei Dank sieht man es kaum, aber ich merke es, wenn
ich mit der Zunge darüber fahre. Sobald ich zu Hause bin, muss ich die Kante
polieren lassen.“
Wir wandern noch ein ganzes Stück zusammen und gehen noch
gemeinsam in eine Bar auf dem Weg. Raffaele lädt mich zu einem Kaffee ein und
ich freue mich darüber. Er ist doch kein Idiot, wie ich die letzten Kilometer
feststellen durfte.
Auf diesem Camino-Weg wird mir eindeutig das
„Menschen-vor-verurteilen“ abgewöhnt. Das kann ich ab sofort ohne den
geringsten Zweifel von meiner Pilgermission behaupten.
Jeder, aber wirklich jeder, über den ich eine abwertende
Meinung hatte, wurde mir zur Seite gereicht und ich hatte dann genügend Zeit,
diesen Menschen kennen zu lernen und meine Meinung zu ändern. Prima, also
gewöhne ich mir das Verurteilen anderer Menschen mal ganz schnell ab. Denn wie
ich selber auch, haben auch andere immer mal wieder nicht so aufregend gute
Tage und sind trotzdem keine schlechten Menschen.
Wer hätte das bloß gedacht?
Welch eine bahnbrechende Erkenntnis!
Die Italiener wollen heute noch weit gehen und beschleunigen
ihren Schritt. Wir verabschieden uns, wünschen uns einen „buen Camino“ und
gehen unserer Wege.
Habe an meinem Rucksack ein paar Schnüre gefunden. Wenn ich
an denen ziehe, verbessert sich die Passform. Jetzt sitzt er deutlich besser
und drückt nicht mehr so sehr auf die Hüften. Klar hätte ich da schon mal
früher darauf kommen können, aber ich bin froh, dass es mir heute auffiel.
Typischerweise hätte ich es auch gar nicht bemerken können. Dieser Camino…..
Der Nebel ist weg, der Himmel blau und die Sonne brennt.
Auch schön. Viertel nach elf. Noch ‘ne Banane und dann weiter. Heute brauche
ich mal wieder eine gute Dusche wegen der Haare und eine Waschmaschine. Alles
stinkt nach Schweiß und für eine Handwäsche sind manche Teile einfach zu groß.
Besonders diese Vliesteile sind ja ganz besonders ungeeignet für Sportarten, in
denen man schwitzt (haha). Die stinken ja schon nach zwei Tagen wie der Bock
auf dem Mist. In der Handwäsche bekommt man den Mief nur mit großer Anstrengung
und viel Seife wieder heraus. Weil man bei Handwäsche selten eine Schleuder hat
und das auswringen niemals so gut gelingt wie frisch geschleudert, dauert es
auch noch ewig, bis diese Plastikteile trocken sind.
Bei diesem Zeugs war das Marketing mal wieder besser als das
Produkt. Mein kuscheliger Kaschmirrollkragenpullover habe ich schon seit sechs
Tagen jede Nacht an und wenn es kalt ist, auch bis mittags. Der riecht noch
frisch wie am ersten Tag. Ehrlich.
Wolle eben. Nichts geht über die sich selbst reinigende
Natur.
Wieder einmal stelle ich fest, dass ich eine Alleingeherin bin.
Definitiv. Mir gefällt das Pilgern. Den ganzen Tag draußen zu sein, Bewegung in
frischer Luft zu haben und die herrliche Natur zu genießen. Noch keinen Moment
hatte ich Angst überfallen zu werden oder nicht zurechtzukommen. Alleine zu
Pilgern ist so viel einfacher, während man auf diesem Weg geht, als wie man es
sich das von zu Hause aus vorstellt.
In Sarria bleibe ich nur ganz kurz und
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