Schulaufgaben
hatten die Kinder im zweiten Schuljahr längst überwunden. Sie grüßten und freuten sich über das Wiedersehen nach den Ferien. Die Lehrer gingen herum, plauschten hier und da mit den Schülerinnen und Schülern. Alle wirkten sehr vertraut miteinander.
Wir saßen im Zelt und nahmen viele Informationen entgegen und eine Fülle von Eindrücken in uns auf: die Leichtigkeit des Nachmittags; das Wissen um den Wohlstand; die Ahnung, dass die meisten hier doch viel arbeiten werden; das Versprechen auf eine gesicherte Zukunft; die Transparenz klarer Regeln. Alex wollte seit Langem sein freies Auslandsjahr. Ein Jahr, in dem er zwar in die Schule ging, aber lernte, so viel, oder besser, so wenig er wollte. Das war versprochen. Doch uns wurde an diesem Tag klar, dass es hier nicht nur um akademische Leistungen ging. Viele Menschen würden neun Monate lang an seiner Seite sein Wissen befördern und seine soziale Entwicklung schulen: sein Warden, sein Tutor und jene, bei denen er die Stunden in CAS belegte. Die Ergebnisse in all diesen Bereichen würden im Zeugnis stehen – und sie würden mehr Platz einnehmen als die Noten in den sechs Wissensfächern.
Auf meinem Rückweg gingen mir viele Fragen durch den Kopf: Wie wird Alex mit dem Luxus der Bildungsangebote
und dem Reichtum seiner Mitschüler umgehen? Wird er diesen Habitus der Gelassenheit der Reichen übernehmen? Wird er in Deutschland später auf andere Menschen herabsehen? Mir kamen beträchtliche Zweifel, ob die Wahl dieser Schule, die so sehr auf Zufällen beruht hatte, eine gute Idee war. Doch dann hatte ich sein neues kleines Zimmer vor Augen, das er mit dem ihm fremden Nick teilt. Ich stellte mir Alex beim Nutzen der Waschräume vor, die für sechs Jugendliche ausgelegt waren, beim Essen in der Schulkantine am Morgen, Mittag und Abend, beim Waschen seiner Wäsche oder in seinen Unterrichtsblöcken – alle in englischer Sprache – und musste schmunzeln. Vielleicht würde er ja bald bei seinen Eltern anrufen und ihnen sagen, wie sehr er sie vermisst, wie sehr er sich auf die Ferien freut und auf das Ende dieser neunmonatigen Expedition?
Doch zunächst meldete sich Alex gar nicht. Wenn die Eltern ihn anriefen, schienen sie nur zu stören. Ansatzweise konnten sie im Internet verfolgen, wie sein Leben in der Ferne verlief. Welche Fächer er gerade hatte, wann er welchen Sport betrieb und welche anderen Aktivitäten er belegte, ob er pünktlich war oder verspätet. Für jeden Schüler war eine Seite eingerichtet worden, die sich nach und nach mit Informationen füllte. Auch mit den (Zwischen-)Zeugnissen am Ende jedes Terms. Die Eltern wussten bald mehr über Alex in der Schule, als sie in Deutschland je gewusst hatten. Ich dachte an meine eigene Schulzeit. Wie fürchterlich wäre ein solch gläsernes Leben für mich gewesen.
Alex litt nicht. Das Auslandsjahr hatte ihn gepackt. Er fasste Fuß. Er lernte. Er lernte in alle Richtungen.
Nach dem ersten Term-Zeugnis bat er, doch auf der Schule bleiben und dort sein Abitur machen zu dürfen. »Ich weiß, das wird hart«, sagte er seinen Eltern. »Die IB 1- und IB 2-Schüler lernen Tag und Nacht. Ich schaffe das auch. Es gefällt mir hier in der Schule besser als in der zu Hause.«
Diese Bitte überraschte seine Eltern und mich nicht allzu sehr. Wir hatten gesehen: Seine Zeugnisse wurden zunehmend besser. Die Lehrer überhäuften ihn mit Komplimenten. Aus der Forschung ist bekannt, wie stark Bildungserfolg und Bildungsbegeisterung zusammenhängen. Offensichtlich fühlte sich Alex durch die unmittelbare Ansprache seiner Lehrer bestärkt, die ausführlichen Rückmeldungen spornten ihn an, in den wesentlich kleineren Klassen konzentrierte er sich besser, die begleitenden Gespräche mit dem Tutor, dem Warden und all den anderen taten ihm gut. Zwar würden all diese Menschen Alex helfen, wenn er das wollte. Seine Abschlussnoten aber würden nicht von den eigenen Lehrern vergeben werden. Alle Arbeiten, die für das Examen zählten, würden irgendwo auf der Welt beurteilt. Sie würden in andere Länder zu fremden Personen geschickt, korrigiert und zurückgesandt werden. Lehrer zu mögen oder nicht, war in diesem System für die Noten der Schüler irrelevant. Stattdessen arbeiteten Lehrer und Schüler gemeinsam daran, andere von sich und vom Wert der Schule zu überzeugen. Dieses Gemeinsame erschien mir der Schlüssel für das neue schulische Interesse von Alex.
Der Rest ist schnell erzählt. Den Wunsch von Alex, in England
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