Schuld währt ewig
strömte in die Werkstatt. Sie sank auf den Schemel und dachte minutenlang nichts. Gar nichts, bis das Mantra der ewig selben Fragen in ihr aufstieg. Was war geschehen? Was, um Gottes willen, war nur geschehen, in diesen Sekunden, die ihr fehlten?
2
Es war kurz nach fünf und bereits dämmrig. Eugen Voigt sah aus dem Fenster. Er mochte weder Herbst noch Winter. Zu kalt, zu matschig. Selbst frisch gefallenem Schnee konnte er nichts abgewinnen. Rasend schnell wurde er zu einer dreckig-grauen Pampe, die niemand wegräumte und Gehwege in tödliche Fallen verwandelte. Im Winter vor zwei Jahren war er schlimm gestürzt und hatte sich das Becken gebrochen. Seither litt er unter Schmerzen. Egal ob er saß, stand, ging oder lag, seine Knochen quälten ihn in jeder Lebenslage, vor allem bei nasskaltem Wetter. Er mochte die kalte Jahreszeit nicht. Genau genommen mochte er auch den Frühling nicht. Zu unbeständig. Und der Sommer … Na ja, in Griechenland oder Spanien könnte man ihn sicher gut ertragen. Wärme würde den Schmerz vertreiben. Da war sich Eugen Voigt sicher. Doch für eine derartige Reise fehlte ihm das Geld. Als Folge des Sturzes war er seit einigen Wochen Frührentner und konnte derartige Träume vergessen. Er war verurteilt zum Urlaub in München bis ans Ende seiner Tage. Und wem hatte er das zu verdanken? Jemandem, der seiner Räumpflicht nicht nachgekommen war. Der Prozess mit der Versicherung lief und lief und würde wohl bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag währen. Der Anwalt hatte wenig Hoffnung, ein ordentliches Schmerzensgeld herauszuschlagen. Die Schuldfrage war noch immer ungeklärt.
Wenn wenigstens Margot noch bei ihm wäre. Doch sie hatte ihn verlassen. Schon vor vier Jahren, nach über zwanzig Jahren wilder Ehe. Warum? Das hatte er bis heute nicht verstanden.
Was blieb ihm also noch vom Leben?
Seine Schefflera, ein bis an die Decke reichender Ficus Benjamini, eine üppige Dieffenbachia und sein ganzer Stolz, ein mannshoher Kaffeestrauch. Diese Pflanzen umsorgte und pflegte er wie Kinder. Kinder, die ihm nie widersprachen und ihn für seine Fürsorge belohnten, indem sie gut gediehen. Der Mensch brauchte eben eine Aufgabe. Oder zwei. Mit Wässern, Düngen, Beschneiden und Umtopfen war Eugen nicht ausgelastet.
Ächzend verlagerte er das Gewicht aufs andere Bein und stützte sich dabei mit den Armen auf dem Fensterbrett ab. Ein Kissen sorgte dort für ein wenig Komfort.
Seit er Frührentner war, hatte er mehr Zeit für ein Hobby, mit dem er schon vor Margots Auszug begonnen hatte. Block, Stift und die Kamera lagen bereit. Zwölf Megapixel, Spiegelreflex mit einem Teleobjektiv von 300 mm Brennweite. Das hatte er schon vor Jahren gekauft. In den guten Zeiten. Heute, mit seiner gekürzten Rente, wäre ein solcher Luxus nicht drin.
Eugen blickte aus dem Schlafzimmerfenster seiner Wohnung, die sich im Erdgeschoss eines Nachkriegsbaus befand, auf die Straße.
Einer noch, und er hatte die Tausend voll. Zur Feier des Tages hatte er bereits eine Flasche Wein aus dem Supermarkt kalt gestellt. Dazu gab es Kassler und Sauerkraut.
Zehn Minuten, vielleicht auch eine Viertelstunde würde es noch hell genug sein, um eine gute Aufnahme zu machen. Irgendein Depp würde sich doch heute noch finden, der glaubte, dass Regeln nur für andere galten. So wie Nummer 999, ein dunkelblauer SUV , der schon seit fünfzehn Minuten in der Feuerwehranfahrtszone ein Stück weiter unten in der Straße parkte. Mit dem Teleobjektiv hatte Eugen ihn erwischt. Kennzeichen, Datum und Uhrzeit waren in den dafür vorgesehenen Spalten auf dem Block notiert.
Im Haus gegenüber brannten bereits seit einer Stunde alle Lichter in den Erdgeschossräumen. Was für eine Energieverschwendung. Dieser Architekt, der dort sein Büro hatte, schien keine Geldsorgen zu haben. Schicke Anzüge, tolle Frau, dickes Auto. 22-mal hatte Eugen ihn schon angezeigt. Parken auf dem Gehweg, im absoluten Halteverbot, in der Feuerwehranfahrtszone und natürlich wegen Fahrens durch eine Einbahnstraße in verkehrter Richtung. Diese Abkürzung nahmen viele. Fünfzig Meter durch eine einspurige Gasse, die ein Stück weiter oben abzweigte, und man ersparte sich einen Umweg von mehreren hundert Metern. Seit Eugen aufpasste, trauten sich die Anwohner allerdings nur noch selten, diesen Weg zu nutzen. Nummer 1000 würde der Architekt Jens Flade daher vermutlich nicht werden.
Langsam wurde Eugen ungeduldig. Er hatte sich darauf eingestellt, heute zu feiern, und wollte es
Weitere Kostenlose Bücher