Schulden ohne Suehne
gewährleisten sowie die Wettbewerbsfähigkeit zu fördern und schädliche makroökonomische Ungleichgewichte auszugleichen.« 117 (S. 4)
Diese Worte sind programmatisch für die gesamten Veränderungen der europäischen Finanzverfassung, die parallel zu dem stetig erweiterten Rettungsschirm seit Mai 2010 erfolgt sind oder beschlossen wurden. Die Chronik auf Seite 249 gibt eine Übersicht über die Maßnahmen. Sie laufen im Kern darauf hinaus, der Kommission selbst, oder dem Rat der Regierungschefs, erweiterte Kompetenzen oder gar Durchgriffsrechte zu übertragen, was die Kontrolle der nationalen Haushalte der Mitgliedsländer angeht, beginnend mit der Aufstellung des Haushalts bis hin zu konkreten Sanktionen für Staaten, deren Haushaltspolitik sich nicht auf den Pfad der Tugend führen lässt.
Die kompetenzverlagernden Maßnahmen begannen mit der Einführung des »Europäischen Semesters«. Bei dieser vielstufigen Prozedur müssen die Mitgliedsstaaten ihre Haushalte lange vor der Verabschiedung durch die heimischen Parlamente der Kommission und dem Europäischen Rat vorlegen und erhalten von der Kommission Einzelempfehlungen. Man darf an einem Erfolg dieser Überwachung zweifeln. Das Bundesministerium der Finanzenbeteuert auf seiner Homepage zur Beschreibung dieser Prozedur jedenfalls »Die Haushaltshoheit des Bundestags bleibt davon unberührt« und macht damit die Begrenzungen der Einflussnahme aus Europa sehr deutlich. 118
Grundlegender und wichtiger war die Diskussion um die Verschärfung und Ausweitung des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts, also des Regelwerks, das bislang als Artikel 126 AEUV in der E U-Verfassung verankert ist, und dessen mangelnde Wirksamkeit schon thematisiert wurde.
Das Ergebnis der Diskussionen war ein neuer Stabilitäts- und Wachstumspakt, bestehend aus sechs europäischen Rechtsakten, die im Eiltempo auf verschiedenen E U-Gipfeln beginnend im Jahr 2010 beschlossen wurden. Dieser sogenannte »Sixpack« stärkt die Kommission und den Rat bei einer präventiven Kontrolle der nationalen Haushaltspolitiken und beschreibt ein Regelwerk mit Prozeduren und Sanktionen zur Durchsetzung von Korrekturen in den nationalen Haushaltspolitiken, besonders zur Vermeidung übermäßiger Verschuldung. Eingriffsrechte auf europäischer Ebene werden auch zur Vermeidung und Korrektur von »makroökonomischen Ungleichgewichten« definiert, womit Korrekturen bei Leistungsbilanzungleichgewichten oder Arbeitsmarktproblemen gemeint sind. Kaum beschlossen wurde das Regelwerk bereits durch einen sogenannten Fiskalpakt ergänzt, wonach die Mitgliedsstaaten in ihrem nationalen Recht Vorschriften in Anlehnung an die »Schweizer Schuldenbremse« übernehmen sollen, so wie sie im Rahmen der deutschen Verfassungsreform im Jahr 2009 eingeführt wurde (vgl. Kapitel 12).
Die rasante Kompetenzverlagerung entspricht einem allgemeinen organisationstheoretischen Verhaltensmuster der Politik in Problemlagen. Interessengruppen entdecken in Problemlagen die Chance, alte, langgehegte Pläne den politischen Entscheidungsträgern als neue »Problemlösungen« verkaufen zu können. Da diese Pläne eben nicht neu sind, sind sie weitgehend ausgearbeitet und stehen sofort zur Verfügung. Die Herausforderung für die Interessengruppen besteht eher darin, den Entscheidungsträgern zu erklären, warum ausgerechnet diese Ideen das neue Problem lösen. Aber weil kurzfristig oft keine wirklich problemadäquatenLösungsalternativen zur Hand sind und die Politik ihre Problemlösungskompetenz unter Beweis stellen möchte, haben die Interessengruppen in diesem Augenblick eine historische Chance. In der Verwaltungstheorie wird dieses Phänomen als das »Mülleimer-Modell« (»garbage can model«) politischer Entscheidungen bezeichnet. 119
Mit der Stärkung der Haushaltskompetenz auf europäischer Regierungsebene auf deutsche Initiative hin wiederholt sich in gewisser Weise die Geschichte. Schon im Jahr 1995 war es der damalige deutsche Finanzminister Theo Waigel, der auf den Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt drängte, und damit nicht bei allen Mitgliedsstaaten auf Verständnis gestoßen ist. Auch heute setzen viele darauf, durch einen neuen, besseren und gehärteten Stabilitätspakt die Haushaltsdisziplin und einen harten Euro wiederherzustellen.
Angesichts des Scheiterns des ursprünglichen Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts mag man über diese Zuversicht staunen, und darüber, dass die Politik
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