Schuldig wer vergisst
Callie. »Ich möchte sie so gut wie möglich unterstützen.«
Am anderen Ende der Leitung trat eine Pause ein, als ob Marco seine Worte abwöge. »Wenn du sie unterstützen möchtest, cara mia, dann bleib einfach bei ihr. Halte sie uns und Angus vom Hals. Wir haben gerade genug um die Ohren, eine hysterische Großmutter hätte uns in dem ganzen Kuddelmuddel noch gerade gefehlt.«
»Morag ist nicht hysterisch«, protestierte Callie. »Natürlich ist sie betroffen. Und krank vor Sorge. Aber sie ist nicht der hysterische Typ.«
»In dem Fall«, sagte Marco, »tu einfach irgendetwas, um sie zu beschäftigen.«
Der Zug hielt in Newcastle mit seinen hohen Brücken über den Tyne, dann kam Berwick-upon-Tweed, direkt am Meer. Im nächsten Moment hatten sie die Grenze überquert.
Schottland!
Alex hätte am liebsten das Fenster geöffnet, um die Luft ihrer Heimat tief einzuatmen. Doch bei der Planung dieser Züge hatte man das Öffnen der Fenster nicht vorgesehen, und so musste sie sich damit zufriedengeben, sich einfach nur an den sanften Hügeln der Borders sattzusehen, die selbst im eisigen Griff des Winters noch schön waren. Nicht atemberaubend wie ihre Highlands, dachte sie, aber doch auf ihre eigene würdevolle, unaufdringliche Art einfach nur schön.
Schottland: das Land, in dem sie geboren war, das Land ihrer Vorfahren. Blau bemalte Pikten, kriegerische Kelten, die sich in der Vorgeschichte verloren. Sie begriff selbst nicht, wieso dieses Land eine solche Anziehungskraft für sie hatte, ihr so zu Herzen ging, und sie hätte es auch nicht in Worte fassen können. Doch Alex wusste, dass sie trotz allem in diesem Moment glücklicher war als all die Monate zuvor – seit jenem schwarzen Tag, an dem sie über die Grenze nach England, ins fremde London geschafft worden war.
Sie war endlich daheim.
NEUNZEHN
Die E-Mails waren zutiefst deprimierend. Wenn er sie noch länger las, dachte Neville, würde er Selbstmordgedanken kriegen.
Was für ein einsames Kind diese Alex war. Völlig isoliert.
Für ihre Freundin Kirsty war das Leben offensichtlich weitergegangen. Sie hatte neue Freunde, neue Interessen. Sogar eine erste kleine Liebe.
Bei Alex dagegen herrschte Stillstand. Sie lebte ganz in der Vergangenheit, in der Erinnerung an eine enge Freundschaft, deren Tage gezählt waren, wenn die tägliche Nähe fehlte.
Und an diesem Punkt war Jack auf der Bildfläche erschienen. Jack mit seiner lockeren Vertraulichkeit und den großzügigen Komplimenten. An die Freundschaft, die Jack ihr per E-Mail bot, hatte sie sich wie an eine Rettungsleine geklammert.
Um ihn und ihre Beziehung hatte sie eine Fantasiewelt konstruiert. »Sasha« – der Name, mit dem sie ihre Mails unterschrieb und mit dem Jack sie anredete, das hatte Neville zunächst verblüfft, bis er begriff, dass Sasha die Person war, die Alex sein wollte: älter, selbstsicher, klug und erfahren. Sie hatte alles darangesetzt, erwachsen und weltläufig zu klingen.
Dabei hegte er keinen Zweifel, dass Jack sich keine Sekunde lang hatte täuschen lassen. Er wusste zweifellos, dass Sasha keine sechzehn war, dass sie nicht so weltklug war, wie sie tat, und sich schon gar nicht mit Männern auskannte. Alex’ tatsächliche Naivität, ihre Unschuld klang durch ihre Nachrichten durch. Jeder Narr hätte das gesehen.
Demnach wusste Jack, dass sie in Wahrheit ein kleines Mädchen war.
Er hatte ihre Einsamkeit, ihr Bedürfnis nach menschlicher Nähe ausgenutzt. Er hatte ihr geschmeichelt und sich als Vertrauter aufgespielt – sie in eine kalkulierte Richtung gelenkt, mit absehbaren Konsequenzen.
Grooming – nannte man das, was Internet-Pädophile machten, nicht so? Die Anbahnung und Pflege einer Beziehung bis zur ersten persönlichen Begegnung mit ihren Opfern? Es war ein allmählicher, sorgsam austarierter Prozess. Nichts überstürzen, sie nicht verschrecken, sondern ihr Vertrauen erringen. Ihre … Liebe.
Neville schlug mit der Faust auf die Ausdrucke. Es war widerwärtig. Ekelerregend. Die schlimmste Form von Ausbeutung. Bei dem bloßen Gedanken, wohin das führen konnte, wurde einem schon schlecht.
Wo war Alex Hamilton? War sie vielleicht gerade jetzt bei diesem Perversen?
Dieses Stück Scheiße schnappe ich mir, schwor sich Neville.
Sein Telefon klingelte.
»Hey, Chef«, sagte Danny Duffy. »Dieser Kerl war nicht so gescheit, wie er vielleicht dachte. Er hätte ein Hotmail-Account benutzen können oder sonst was, um es uns schwerer zu machen, ihn
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