Schuldig wer vergisst
Halt. Es ist nicht gut, allein zu sein. Für keinen von uns. Glauben Sie mir. Ich kenne beides, und wer allein ist, der ist auch einsam.«
»Aber Beziehungen machen das Leben so kompliziert.« Sie dachte an Morags Sohn. An die Komplikationen, die seine neue Ehe für so viele Menschen mit sich gebracht hatte, nicht zuletzt für seine Mutter …
»Und bereichern es.« Morag wandte den Blick nicht von der Straße. »Ich weiß, Mädchen, es muss eine Versuchung für Sie sein zu denken, dass Gott – und die Kirche – Ihnen genügen könnten. Um die Lücken in Ihrem Leben auszufüllen. Und Bella natürlich«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu, indem sie über die Schulter einen kurzen Blick auf den Rücksitz warf.
Widerstrebend nickte Callie. Das dachte sie tatsächlich. Auch wenn sie es vielleicht nicht genau so ausgedrückt hätte. »Wenn Sie sich für diesen Weg entscheiden, Callie, dann leben Sie nur halb. Und Sie werden nie erfahren, was Sie sich haben entgehen lassen.« Sie lächelte in sich hinein. »Ich hatte fast vierzig Jahre mit meinem Donald. Nicht genug Jahre, wohlgemerkt, und es waren weiß Gott nicht alle eitel Sonnenschein. Das gebe ich offen zu. Aber man muss es nehmen, wie es kommt, und die guten Jahre sind es wert. Ich würde die Zeit mit meinem Donald für nichts auf der Welt missen wollen und bin unendlich dankbar dafür.«
Callie musste daran denken, wie sehr sich Morag von ihrer eigenen Mutter unterschied: die Bitterkeit, mit der Laura Anson ihr Dasein als Witwe erfüllte, als sei es geradezu unverzeihlich, dass ihr Mann vor ihr gestorben war. Wie viel gesünder
war da Morags Haltung, und das trotz allem, was sie durchgemacht hatte. Vielleicht, gab Callie innerlich zu, hatte die negative Einstellung ihrer Mutter stärker auf sie abgefärbt, als sie sich selbst eingestand.
Nur eines wusste sie ganz sicher: Sie wollte niemals wie sie werden.
»Ich versuche nicht, Ihnen zu sagen, wie Sie leben sollen, Mädel«, sagte Morag wie zur Entschuldigung. »Ich hoffe, Sie empfinden das nicht als aufdringlich.«
»Kein bisschen.«
Morag schlug auf einmal einen forschen Ton an. »Ich denke, wir suchen uns mal eine Stelle, wo wir ranfahren können. Zeit für einen Kaffee und ein paar Sandwiches. Und ich könnte mir denken, dass die kleine Bella gegen ein bisschen Bewegung nichts einzuwenden hätte.«
Es dauerte eine ganze Weile, bis das Klingeln des Telefons in Nevilles Träume drang – unangenehme Träume voller Schrecken, die sich verflüchtigten, als er langsam wach wurde und nur noch ein schlechter Nachgeschmack zurückblieb.
Seine Augen waren noch geschlossen, und er war sich nicht ganz sicher, wo er war. Es klingelte irgendwo in der Nähe seines rechten Ohrs, und er tastete einen Moment danach.
»DI Stewart«, brachte er schließlich mit heiserer, krächzender Stimme heraus.
Er befand sich tatsächlich an seinem Schreibtisch, wo er den größten Teil der Nacht verbracht hatte. An irgendeinem Punkt war er wohl nicht mehr in der Lage gewesen, die Augen auch nur eine einzige Sekunde länger aufzuhalten, hatte den Kopf auf den Tisch gelegt und war eingeschlafen.
Es war noch dunkel. Wie spät? Neville schaffte es, die Lider einen Spalt breit zu öffnen und blinzelnd auf seine Armbanduhr zu sehen. Kurz nach sieben.
»Oh, Sie sind noch da«, hörte er Detective Superintendent Evans sagen. »Gut.«
Neville fragte sich, was daran gut sein sollte. Jeder Muskel tat ihm weh von der unnatürlichen Haltung, in der er geschlafen hatte; außerdem brummte ihm der Schädel. Er sehnte sich nach seinem Bett, wo er weit weg von alldem hier den Schlaf des Gerechten schlafen wollte. Stattdessen saß er immer noch hier fest, und Alex Hamilton wurde immer noch vermisst. Es sei denn, Evans wusste mehr als er …
»Nichts Neues?«, fragte Evans.
»Ehm … nein.«
»Also, Stewart, ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich für ein paar Stunden nicht erreichbar bin. Die Taufe, Sie wissen schon. Ich bin in der Kirche«, erklärte Evans und fügte hinzu: »Ich stelle mein Handy auf Vibration. Nur für den Fall, dass es einen entscheidenden Durchbruch gibt. Wie zum Beispiel, dass Sie das Mädchen gefunden haben.«
Oder die Leiche, fügte Neville stumm hinzu.
»Aber um Gottes willen, Stewart, nur dann, ansonsten bin ich nicht zu sprechen.«
»Ja, Sir.«
Neville lehnte sich zurück und schloss die Lider. Irgendjemand, dachte er, musste da hinter seinen Augen hocken und von innen dagegendrücken. Er konnte sich nicht
Weitere Kostenlose Bücher