Schuldig wer vergisst
Ihnen Starthilfe. Bis wohin wollen Sie denn?«
»Kelso«, sagte Morag.
»Oh, das sollte kein Problem sein. Aber falls Sie noch weiter wollen, sollten Sie sich überlegen, ob Sie nicht eine neue Batterie kaufen.«
Neville schickte einen Constable zu Yolanda, um Rachels Laptop abzuholen, und gönnte sich noch einen Becher Kaffee, bevor Cowley erneut erschien. »Chef, noch ein Anruf.«
»Anruf?«
»Auf der Hotline«, erklärte Cowley. »Ich glaube, Sie sollten mit dieser Frau sprechen, Chef. Sie sagt, Alex Hamilton ist in Schottland.«
»Schottland? Hol mich der Teufel!« Neville runzelte skeptisch die Stirn. Sie hatten Dutzende Anrufe aus dem ganzen Land hereinbekommen, bis hinunter zu den Kanalinseln, und überall war das Mädchen gesehen worden. Was sollte an diesem hier anders sein?
»Reden Sie mit ihr, Chef«, wiederholte Cowley. »Könnte was dran sein.«
Also rief Neville die Frau an, die eine Nummer in einem Edinburgher Hotel hinterlassen hatte.
»Heute Morgen lag eine Zeitung vor unserer Zimmertür«, sagte sie. »Ein Freiexemplar.«
»Ja?« Neville gab sich aufrichtig Mühe, nicht ungeduldig zu klingen.
»Das kleine Mädchen. Die Kleine, die vermisst wird. Es war ein Foto drin. Ich hatte das Gefühl, sie kommt mir ein bisschen bekannt vor.«
Dir und ein paar Hundert anderen, dachte Neville im Stillen.
»Mein Sohn Henry«, fuhr sie fort. »Als er das Foto sah, wurde er ganz still. Das passt nicht zu ihm. Ganz und gar nicht. Wenn Sie ihn kennen würden, wüssten Sie, was ich meine.«
Zum Glück, dachte Neville, war ihm das Vergnügen erspart geblieben.
»Dann, nach einer Weile, hat er mir alles erzählt. Das Mädchen war gestern mit uns zusammen im Zug. Von King’s Cross nach Edinburgh. Sie ist auch mit uns eingestiegen,
sagt er. Sie saß hinter uns. Und sie ist mit uns ausgestiegen.«
Neville versuchte, ruhig zu bleiben. Wieso sollte er Klein-Henry glauben? Der Bengel machte sich wahrscheinlich nur interessant.
Seine Mutter hatte wohl ähnliche Zweifel an der Aufrichtigkeit seiner Motive gehegt. »Schließlich hab ich ihm die ganze Geschichte aus der Nase gezogen. Er wollte es mir erst nicht erzählen. Es wäre ein Geheimnis, und er hätte geschworen, es nicht weiterzusagen.«
»Ein Geheimnis?«
»Er hat gemerkt, dass sie – das Mädchen – mit uns eingestiegen ist. Ich meine, sie hat so getan, als gehörte sie zu unserer Familie. Als dann der Schaffner durch unseren Wagen kam, ist sie auf die Toilette gegangen. Henry hat wohl rausgekriegt, dass sie keinen Fahrschein hatte. Also hat er sie … na ja, er hat sie erpresst. Hat ihr gesagt, er würde sie nicht verpetzen, wenn sie ihm zwanzig Pfund gibt. Er hat mir das Geld gezeigt. Zwei Zehn-Pfund-Scheine. Und das«, fügte sie hinzu, und es klang nach einer Mischung aus Unmut mit einem Hauch Stolz, »klingt wirklich nach Henry. Wenn Sie ihn kennen würden, wüssten Sie, dass es passt. Er sagt die Wahrheit.«
Danke, Henry, dachte Neville in sekündlich wachsender Euphorie. Du mieser kleiner naseweiser, erpresserischer Hosenscheißer. Als er auch noch mit Henry gesprochen und sich tatsächlich davon überzeugen lassen hatte, dass er die Wahrheit sagte, legte er auf und drehte sich mit einem Grinsen zu Cowley um, aus dem Erleichterung, Glück und Staunen sprach. »Schottland!«, sagte er. »Hol mich der Teufel, Sid, die Kleine ist in Schottland!«
Wenige Minuten später bestätigte sich die Erkenntnis durch einen weiteren Anruf, den sie für noch verlässlicher hielten: Die Frau am Schalter der Touristeninformation von Edinburgh
hatte das Foto in der Morgenzeitung gesehen und war sich absolut sicher, dass dieses vermisste Mädchen am Sonntagnachmittag hereingekommen war und sich nach einer Busverbindung Richtung Kelso in der Borders-Region erkundigt hatte. Außerdem hatte sie, wie die Frau sagte, nach dem nächsten McDonald’s gefragt.
»Kelso? Die Borders?«, fragte Neville stirnrunzelnd. »Was will sie denn da?« Er hatte nur eine vage Vorstellung davon, wo sich die Borders befanden, doch es klang nicht so, als sei es irgendwo in der Nähe der Highlands, und er hätte erwartet, dass es sie dorthin drängte. Wo sie zu Hause gewesen war, zu ihrer besten Freundin Kirsty.
»Was ist mit der Mutter?«, warf Cowley ein.
»Die Mutter! Sie ist in einer Art Anstalt, oder?«
Cowley zog sein Notizbuch heraus und blätterte es durch. »Da, Chef«, sagte er. »Lochside, Kelso.«
»Sid, Sie sind ein Genie!« Neville hätte ihn in dem Moment
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