Schuldig wer vergisst
»Selbst die trüben Tassen, die ich hier als Kollegen um mich habe, werden es früher oder später spitzkriegen.«
Frances schwieg einen Moment. »Und … Neville? Hast du ihn mal angerufen?«
»Nein, das habe ich auch nicht vor. Wenn ich Glück habe, sehe ich den Bastard nie wieder. Und er kriegt’s nie raus.«
»Nun denn«, sagte Frances halbherzig, als sie merkte, dass ihre Freundin von ihrem wilden Entschluss nicht abzubringen war, »wenn du das Bedürfnis hast, dich mal auszuquatschen, weißt du ja, wo du mich findest.«
»Danke«, sagte Triona. »Und danke für deinen Anruf. Weiß ich wirklich zu schätzen.«
Sid Cowley saß an Nevilles Schreibtisch, trank Kaffee und las den Globe . »Wie nett von Ihnen, mal vorbeizuschauen, Chef«, sagte er sarkastisch, als der Besitzer des Schreibtischs zur Tür hereinkam. »Evans wird entzückt sein.«
»Evans? Gott im Himmel, was hat der damit zu tun?« Nach Nevilles langjähriger Erfahrung verhieß es grundsätzlich nichts Gutes, wenn Detective Superintendent Evans sich in einen Fall einmischte.
»Ist nur so, dass er heute Morgen den Globe zu Gesicht bekommen hat. Seine Sekretärin hat ihn mit der Nase draufgestoßen.«
Cowley hielt ihm die Zeitung hin, und Neville schnappte sie sich. Wahrscheinlich stand etwas über seine Pressekonferenz drin – was sonst?
FÜR SEINEN IPOD GETÖTET, lautete die Schlagzeile über einem körnigen Foto von Trevor Norton. Nun denn, das traf die Sache ziemlich genau, falls sie mit ihrem Verdacht richtig lagen. Weshalb sollte Evans darüber ausflippen?
»Lesen Sie’s«, sagte Cowley. »Lilith Noone schlägt wieder zu.«
»In einem weiteren Fall von unkontrollierbarem Rowdytum wurde der junge werdende Vater Trevor Norton am Freitag brutal ermordet, weil jemand es auf seinen iPod abgesehen hatte«, las Neville laut. »Norton, dessen Frau Rachel kurz vor der Niederkunft mit ihrem ersten Kind steht, joggte
am Grand Union Canal in der Nähe seines Hauses in Paddington, als er überfallen und erschlagen wurde. Seine Leiche wurde am nächsten Tag aus dem Kanal gezogen.
Auch wenn iPod-Morde in den USA nicht unbekannt sind, ist dies der erste Totschlag in diesem Land, der wohl definitiv mit dem bei Jugendlichen überaus beliebten digitalen Musikwiedergabegerät in Zusammenhang steht.
Detective Inspector Neville Stewart, der leitende Ermittlungsbeamte, hielt gestern eine Pressekonferenz, bei der er es ablehnte, einen Zusammenhang zwischen diesem Mord und der heutigen blindwütigen, gewalttätigen Jugendkultur zu sehen – einer Kultur, die es, wie der vorliegende Fall einmal wieder zeigt, gesetzestreuen Bürgern in diesem Land immer schwerer macht, unbehelligt ihren Geschäften nachzugehen.
Eine Familienkontaktperson der Polizei im Haus der Nortons äußerte sich weniger zurückhaltend. Detective Constable Yolanda Fish erklärte: ›Ich glaube, es gibt da draußen eine Menge Eltern, die hinter Schloss und Riegel gehören. Sehen Sie, diese Jugendlichen, die um Mitternacht noch draußen auf der Straße sind, manchmal sogar noch später – das ist eine Schande. Was denken sich die Eltern eigentlich dabei? Ahnen die auch nur, wo und mit wem sie zusammen sind und was sie im Schilde führen?‹
Infolge dieser beklagenswerten Entwicklung wird das Kind von Trevor Norton aufwachsen, ohne seinen Vater je kennenzulernen. Wie lange noch will die Polizei antisoziales Verhalten und Rowdytum auf unseren Straßen dulden? Wie dieser tragische Fall deutlich macht, sind die Grenzen zwischen Jugendkultur und Gesetzlosigkeit bis hin zu brutalem Mord fließend.«
In diesem Tenor ging es weiter, doch Neville hatte genug gelesen. »Allmächtiger«, sagte er aus ganzem Herzen und warf das Blatt auf seinen Schreibtisch. »Jetzt verstehe ich, weshalb Evans kocht.«
»Wenigstens wird er aus Yolanda Kleinholz machen und nicht aus uns«, stellte Cowley mit selbstzufriedenem Grinsen fest.
»Ich bin mit ihr einer Meinung«, gab Neville zu. »Sie hat in Bezug auf diese kleinen Scheißkerle, die sich vierundzwanzig Stunden am Tag auf der Straße rumtreiben, absolut recht.« Kaffee. Er brauchte dringend Kaffee; er war schon halb zur Tür hinaus, als er über die Schulter hinweg sagte: »Aber wissen Sie was, Sid? In diesem Fall hoffe ich, dass sie falsch liegt. Ich hoffe, wir werden beweisen, dass die verfluchte Lilith Noone diesmal komplett danebenliegt. Wäre es nicht fantastisch, wenn die Überwachungskameras uns eine kleine alte Dame präsentieren würden,
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