Schuldig wer vergisst
Tathergang nachstellen? Zum Beispiel Freitagmorgen, eine Woche nach dem Mord?« Er fuchtelte mit seiner Zigarette in der Luft herum. »Der Kerl beim Joggen am Kanal. Der iPod. Der Junge im Kapuzenpulli.«
Neville wünschte sich, er wäre selbst auf die Idee gekommen. »Kein schlechter Gedanke, Sid. Wenn Sie die Leute zusammentrommeln, kümmere ich mich um die Presse. Man weiß ja nie …« Er brach mitten im Satz ab, als Yolanda Fish mit Rachel Norton um die Ecke kam. Also wollte sie wirklich dabei sein, auch wenn das hier reine Formsache war. Er konnte es ihr nicht verdenken – er an ihrer Stelle hätte es nicht anders gehalten.
Rachel war bleich, und Neville hatte das Gefühl, als wäre sie seit ihrer letzten Begegnung vor ein paar Tagen noch ein bisschen runder geworden. Er hoffte inständig, dass sie das Baby nicht hier und jetzt, mitten im Gerichtssaal des Coroners, bekam.
Jane hatte gleich am frühen Morgen in der Praxis ihres Hausarztes angerufen, um einen Termin zu machen. Es war sicher schon ein paar Jahre her, seit sie das letzte Mal beim Arzt gewesen war; sie war kerngesund und hielt nichts davon, ihren Arzt unnötig zu behelligen. Das letzte Mal dürfte sie mit einem der Jungs nach irgendeiner Sportverletzung da gewesen
sein. Charlie, der gelegentlich ein bisschen ungeschickt war, hatte sich einmal mit einem Cricketball das Handgelenk gebrochen, und Simon hatte auf dem Rugbyfeld eine Menge Kratzer und blaue Flecken abbekommen.
Sie hatte nach Dr. Forsythe gefragt, der in all den Jahren, die sie in London lebten, ihr Hausarzt gewesen war, bei der Gelegenheit jedoch erfahren, dass der alte Doktor bereits vor anderthalb Jahren in Pension gegangen war. »Dr. Orme hat seine Patienten übernommen«, sagte die Sprechstundenhilfe. »Ich gebe Ihnen einen Termin bei ihm.«
Und so saß Jane in dem Wartezimmer, das sich außer dem Namensschild am Eingang kein bisschen verändert hatte. Außer ihr wartete die übliche Mischung aus Patienten: ein alter Mann, der hustend in der Ecke saß; ein junger Mann, der sich den Arm rieb; ein hyperaktives Kind, das wahrscheinlich die Schule schwänzte, indem es behauptete, todkrank zu sein, jetzt aber mit Karacho durch das Wartezimmer fegte, während seine Mutter versuchte, es irgendwie im Zaum zu halten. Außerdem, stellte Jane fest, saß dort eine Frau in den mittleren Schwangerschaftsmonaten, die sich unbewusst über den gewölbten Bauch strich, während sie ein zerlesenes Klatschblatt überflog.
Jane hatte selbst eine von diesen Zeitschriften auf dem Schoß, verlor jedoch schnell das Interesse, als sie merkte, wie veraltet sie war: Bestimmt die Hälfte der Berühmtheiten, um die es darin ging, hatten sich inzwischen von den Partnern getrennt, mit denen sie dort noch abgebildet waren und die sie unsterblich zu lieben vorgaben. »Er ist der Mann, den ich ein Leben lang gesucht habe«, turtelte ein Stimmwunder, doch Jane wusste definitiv, dass sie kürzlich jemand anderen geheiratet und dass es mindestens eine weitere Affäre zwischendurch gegeben hatte. Wo sollte das alles nur hinführen?
Jane legte die Zeitschrift zur Seite und ließ noch einmal den entscheidenden Moment des gestrigen Abends Revue
passieren. Brians verblüfftes Gesicht würde sie nie vergessen. »Ein Baby?«, hatte er schließlich herausgebracht. »Ein Baby ?« Keinen Urlaub. Auch kein Auto. Ein Baby.
Vorzugsweise ein Mädchen, hatte sie zu ihm gesagt. Falls sich das machen ließ.
In dem Moment unterbrach die Sprechstundenhilfe ihre Gedanken. »Mrs Stanford? Gehen Sie schon mal rein?«, rief sie von ihrem Schreibtisch aus.
Wie sich herausstellte, war Dr. Orme noch jung. Ziemlich frisch von der Uni, schätzte sie. Jung, blond, mit blassen, sommersprossigen Händen und beinahe unsichtbaren Wimpern. »Was kann ich für Sie tun, Mrs … ehm … Stanford?« Er überflog ihr Krankenblatt, um irgendwelche Anhaltspunkte zu bekommen.
»Ich bin nicht krank«, erklärte sie ihm. »Mir fehlt nichts. Ich komme, um … mir Ihren Rat einzuholen.«
»Rat?« Er hob den Kopf.
Jane holte tief Luft. Jetzt gab es nur noch die Flucht nach vorne. »Ich wünsche mir ein Baby«, sagte sie.
Er starrte sie an. War das, fragte sie sich, ein überraschter oder ein ungläubiger Blick? »Und Sie wollen von mir wissen, was ich von der Idee halte?«, fragte er.
»Nein.« Sie war an der Meinung des jungen Mannes nicht interessiert; sie suchte eher praktischen Rat. »Ich möchte wissen, was ich tun muss.«
Er biss sich auf
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