Schuldig wer vergisst
die Lippe und starrte auf seine Unterlagen. »Wie ich sehe, haben Sie … zwei Söhne? Offenbar haben Sie das schon selber rausgekriegt.«
Ha, ha, ha, dachte Jane. Sehr witzig. Sie überhörte die Bemerkung und erklärte: »Ich meine, rein medizinisch. Ich habe gelesen, Folsäure würde helfen?«
»Vor der Empfängnis? Ja, das empfehlen wir. Und in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen. Das schützt vor Spina bifida .«
»Gibt es noch mehr solche Dinge? Meine letzte Schwangerschaft ist eine ganze Weile her«, räumte sie ein. »Ich weiß, dass die Medizin seitdem Fortschritte gemacht hat.«
Dr. Orme zog eine Schublade auf und wühlte darin herum, bis er schließlich eine Broschüre fand. »Das hier sind die letzten Ratschläge vom Gesundheitsamt«, sagte er. »Kein Alkohol, wenn möglich. Kein Rauchen.«
»Kein Problem.«
»Bei der Ernährung gibt es auch ein paar Dinge zu beachten«, erklärte er ihr. »Zu vermeiden sind rohe Eier, Thunfisch, Weichkäse und Pasteten. Steht alles hier drin.« Er schob ihr das Heft hin. »Und der Koffeinkonsum sollte eingeschränkt werden.«
Jane nahm das Heft und steckte es in ihre Handtasche. »Ich habe … noch eine Frage.«
»Ja?«
»Ich hätte gerne ein Mädchen. Gibt es irgendwelche neuen … technischen Verfahren … um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen?«
Jetzt sah er sie wirklich überrascht an. »Nicht, dass ich wüsste, Mrs Stanford. Es sei denn, Sie wären bereit, eine Menge Geld auszugeben und sich einigen ziemlich unangenehmen Prozeduren zu unterziehen. Vielleicht sollten Sie sich stattdessen überlegen, ein Kind zu adoptieren oder in Pflege zu nehmen? In Ihrem Alter …«
Jetzt war es heraus. »Ich bin nicht so alt«, sagte Jane schnippisch. »Schon gar nicht zu alt, um ein Kind zu bekommen. Viele Frauen kriegen ihre Kinder, wenn sie über vierzig sind. Schließlich sind wir nicht wie Sarah und Abraham!«
Sie hatte dasselbe Argument bei Brian angebracht, der nur süßsäuerlich gelächelt hatte. Dr. Orme hingegen sah sie nur verständnislos an. Er war, rief sie sich in Erinnerung, noch sehr jung, und junge Leute kannten heutzutage
ihre Bibel nicht mehr. »Sarah und Abraham?«, sprach er ihr nach.
»Ach, nicht so wichtig«, sagte Jane. »Ich will nur sagen, ich bin nicht zu alt, um ein Baby zu bekommen. Es … funktioniert noch alles.«
Er schüttelte den Kopf. »Darum geht es eigentlich nicht, Mrs Stanford. Aber sind Sie sich der Risiken einer Schwangerschaft bei Frauen ab, sagen wir, fünfunddreißig bewusst? Es gibt einige neuere Studien dazu, weil immer mehr Frauen die Familiengründung hinauszögern. Daraus ergeben sich alle möglichen Probleme und Risiken – Schwierigkeiten bei der Empfängnis, Eileiterschwangerschaften, Missbildungen beim Fötus, Fehlgeburten. Ganz zu schweigen von genetischen Anomalien wie Downsyndrom.«
»Ich weiß, ich weiß.« Sie wusste es wirklich. Sie hatte von diesen Studien gelesen und die Berichte in den Nachrichten gesehen. Und damit sie es auch ja nicht vergaß, hatte Brian auch noch ihr Gedächtnis aufgefrischt. Aber das schreckte sie nicht ab. Sie war entschlossen. Sie wünschte sich ein Baby – und sie würde eins bekommen.
Die gerichtliche Untersuchung zur Feststellung der Todesursache erwies sich als das, womit alle gerechnet hatten: eine reine Formalität. Nach der Eröffnung wurden die spärlichen Fakten verlesen, bevor der Coroner das Verfahren vertagte.
Vor der Tür warteten schon die Presseleute mit gezückten Kameras. Neville hätte es ahnen müssen – immerhin war dies das erste Mal, dass sie die trauernde, schwangere Witwe zu Gesicht bekamen. Die Morgenausgaben hatten das verschwommene Standfoto der Überwachungskamera mit dem Kapuzenkerl gebracht, das die Polizei ihnen zur Verfügung gestellt hatte, und so zeigten die Berichterstatter noch lebhaftes Interesse. Unwillkürlich trat Neville vor Rachel, um sie vor den Kameras zu schützen.
»Mrs Norton!«, rief ein Reporter. »Haben Sie irgendetwas zu dem Mord an Ihrem Mann zu sagen? Zu dem Rowdy, der ihn auf dem Gewissen hat?«
»Mrs Norton ist zu betroffen, um mit Ihnen zu sprechen«, erklärte Neville entschlossen. »Ich bin sicher, das verstehen Sie.«
»Inspector Stewart, gibt es inzwischen irgendwelche weiteren Erkenntnisse in dem Fall?«, fragte jemand anders. »Jetzt, wo Sie ein Foto von dem Mörder haben?«
Neville überlegte blitzschnell, dass er sich die Gelegenheit zunutze machen sollte; er hoffte, Yolanda und Sid genügend
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