Schuldig wer vergisst
an dem Jogger – wer auch immer er war – schien beinahe aufgeklärt. Aber nicht dank Nevilles überragenden Fähigkeiten, seinem sicheren Instinkt oder auch nur seiner harten Arbeit. Das meiste war schieres Glück gewesen, und den Anteil an Polizeiarbeit konnte Yolanda für sich verbuchen, nicht er.
Hatte er schon die kritische Grenze erreicht? War er schon zu lange in diesem Geschäft?
Inspector Neville Stewart. Wie ging’s für ihn weiter? Der Rang des Chief Inspector war de facto abgeschafft, und er würde es gewiss nie bis zum Superintendent bringen. Zum Arschkriecher fehlte ihm jedes Talent; er war einfach nicht
karrieregeil genug, um sich bei den richtigen Leuten einzuschleimen. Mit harter Arbeit und dank seiner Erfolge hatte er es zum Inspector gebracht, doch weiter käme er damit nicht.
War es an der Zeit, alles hinzuschmeißen? Etwas völlig anderes zu machen? Vielleicht Versicherungen zu verkaufen? Sollte er sich als Kfz-Mechaniker oder Computer-Doktor ausbilden lassen?
Er hatte immer Polizist werden wollen; etwas anderes war ihm nie in den Sinn gekommen. Vielleicht aber war es jetzt höchste Zeit dafür.
Er goss sich noch einen Fingerbreit Whiskey ein und blickte hinaus in den Schnee. Das Wetter erinnerte ihn daran, dass es schon kurz vor Weihnachten war und dass das Jahr zur Neige ging; das wiederum erinnerte ihn daran, dass er nächstes Jahr vierzig wurde. Vierzig! Früher einmal war ihm das unglaublich alt erschienen, das Ende von allem, was die Bezeichnung »Leben« verdiente. Abgehalftert. Jenseits von Gut und Böse.
In der Tiefe seiner Melancholie lauerte natürlich der unausweichliche Gedanke an Triona. Er hatte versucht, ihn beiseite zu schieben. Hatte sich eingeredet, ganz gut ohne sie zu leben. All den Stress und die Komplikationen konnte er nicht brauchen.
Neville nahm einen Schluck Whiskey, dann noch einen großen, um das Glas zu leeren. Mit einem Knall landete das Glas neben der Flasche auf dem Tisch. Verdammt! Willow hatte recht gehabt. Er brauchte Triona tatsächlich. Verflucht noch mal – er liebte sie. Da. Er hatte es zugegeben.
»Du wirst ohne sie nie glücklich sein«, hatte Willow gesagt. War er auch nicht. Es ging ihm richtig dreckig.
Ohne nachzudenken, griff er nach dem Telefon, überlegte es sich aber, bevor er die Nummer eintippte. Es war mitten in der Nacht; Triona wäre nicht begeistert, wenn er sie aus dem Bett klingelte.
Doch wenn er bis zum Morgen wartete, bis er nüchtern war, änderte er vielleicht seine Meinung.
Neville stand auf und ging zu seinem Computer. Er benutzte ihn nur selten, E-Mails waren nicht sein Ding. Im Grunde hatte er ihn nur dastehen, weil ihn ein gelegentliches Solitäre-Spiel entspannte, wenn sein Dienstplan ihm den Griff zur Flasche nicht gestattete.
Er öffnete sein E-Mail-Programm. Keine Nachrichten. Gott sei Dank! Er klickte auf »neue Nachricht« und tippte geschickt mit zwei Fingern. »Hi, Triona, ich glaube, wir sollten miteinander reden. Ruf mich an, und vielleicht können wir uns treffen. N.«
Das sollte reichen. Es legte ihn auf nichts Unwiderrufliches fest. Er zögerte nur eine Sekunde, bevor er die Nachricht versendete.
Anders als bei den meisten Erstgeburten sprach vieles dafür, dass dieses Kind es ziemlich eilig hatte, das Licht der Welt zu erblicken. Nachdem Yolanda die Abstände zwischen den Wehen gestoppt hatte, kam sie zu dem Schluss, dass sie nicht allzu lange damit warten sollten, ins Krankenhaus zu fahren. Sie rief ein Taxi und machte sich daran, ein paar Sachen in eine Reisetasche zu packen.
»Gibt es vielleicht doch jemanden, den ich anrufen soll? Einen Freund oder Angehörigen?« Sie stellte die Frage nur pro forma; sie kannte die Antwort im Voraus, doch sie musterte Rachel genau, während diese den Kopf schüttelte.
»Niemand. Aber Sie kommen doch mit?«
»Ja, natürlich.«
»Und Sie bleiben bei mir?«, fragte Rachel stockend. »Wenn … wenn es so weit ist? Sie lassen mich nicht allein?«
»Wenn Sie es wollen.«
»Ja, ja. Sogar sehr.«
Gegen ihren Willen war Yolanda gerührt. Sie mahnte sich, ihre professionelle Objektivität zu bewahren – als Hebamme wie auch als Polizistin -, doch es fiel ihr schwer. Trotz allem, trotz der Lügen und der Täuschungsmanöver und der verletzenden Bemerkungen, die sie mit angehört hatte, war ihr Rachel Norton nicht gleichgültig. Was auch immer Rachel getan hatte, so hatte sie es aus Liebe getan. Und welche Frau hätte nicht schon aus Liebe etwas Dummes
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