Schuldig wer vergisst
getan?
Sowohl während das Taxi sich im Schneckentempo durch die verschneiten Straßen bewegte als auch anschließend während der Aufnahmeprozedur im Krankenhaus klammerte sich Rachel an sie, und als sie wenig später in den Kreißsaal kam, war Yolanda an ihrer Seite und hielt ihr die Hand.
Jane Stanford ließ den schlafenden Brian im Bett zurück und schlich sich an ihr Lieblingsfenster auf dem Treppenabsatz, wo sie im blass orangefarbenen Licht der Straßenlaterne die Schneeflocken betrachtete. Schon jetzt hatten sie alles in eine Decke gehüllt: das Gras, die Bäume, den Gehweg, die Straße, die geparkten Autos ebenso wie die Kirche. Um diese Zeit gab es keinen Verkehr und keine Reifenspuren, die dieses Winterwunderland in seiner magischen Unberührtheit zerstörten.
Doch Janes Gedanken kreisten weder um den Schnee noch um das Thema, von dem sie seit Tagen wie besessen war: ihren Wunsch nach einem Baby und Brians seltsame Unfähigkeit zu begreifen, was es ihr bedeutete. Sie hatte ihn noch nicht davon überzeugt, dass ihr unverhofftes Erbe Gottes Antwort auf ihre Gebete war. Nein, in seinen vernünftigeren Momenten hielt er eine Anzahlung auf ein Cottage nahe Brighton oder Hove für das Beste, aber auch der Traum, einen Haufen Geld für eine Kreuzfahrt oder einen teuren Sportwagen hinzublättern, war noch nicht ausgeträumt.
Jane dachte vielmehr an die unerwartete Wendung am gestrigen Abend. Charlie war wie ein kleines Kind in die weiße Pracht hinausgelaufen und hatte übermütig versucht, einen Schneemann zu bauen. Simon dagegen hatte die Wetterlage mit Stirnrunzeln und Kopfschütteln quittiert.
»Nicht gerade tolles Reisewetter, wenn es so weitergeht«, hatte er gesagt.
»Reisewetter? Aber wir wollen doch nirgends hin«, hatte Jane gekontert.
»Ellie und ich schon. Morgen. Haben wir dir bestimmt gesagt, Mum.«
Und auf diese Weise hatte er es ihr beigebracht; als hätte sie es bereits wissen müssen. Als wäre es so oder so für sie kein großer Unterschied.
Er und Ellie würden am Morgen abreisen, um zu ihren Eltern zu fahren. Die Dickinsons wohnten in einem Dorf in Northamptonshire und würden Simon und Ellie in Kettering vom Zug abholen. Sie wären über Weihnachten dort und kämen zu Silvester wieder zu ihnen zurück.
Ganz beiläufig, einfach so. Simon wäre zu Weihnachten nicht zu Hause. Zum ersten Mal in seinem Leben wäre er zu Weihnachten nicht bei seiner Familie.
Weihnachten würde nicht mehr dasselbe sein. Dieses Jahr nicht und nie wieder. Jane wusste das mit einer Gewissheit, die sie zugleich beunruhigte und deprimierte. Tief getroffen verschränkte sie fest die Arme, legte die Stirn an die kalte Scheibe und starrte in den Schnee.
Wegen des Schnees und des daraus folgenden Verkehrschaos brauchte Frances an diesem Morgen ein wenig länger ins Krankenhaus. Sie ging zuerst in ihr Büro, um den Mantel abzulegen und ihre Mailbox abzuhören sowie im Computer nach E-Mails zu sehen.
Nichts Dringendes, Gott sei Dank. Und auch keine wichtige Post. Sie wollte gerade ihre Handtasche wegschließen und sich auf die übliche Runde machen, als es zaghaft an ihre Bürotür klopfte.
»Herein?« Frances blickte auf, und Triona stand vor ihr. »Oh! Das ist aber eine Überraschung«, sagte sie und fügte hinzu, »wie schön, dich zu sehen!«
Triona verzog schuldbewusst das Gesicht. »Ich hoffe, ich störe nicht.«
»Kein bisschen.«
»Was dagegen, dass ich den Mantel ausziehe?«
»Mach’s dir bequem.« Frances zeigte auf den Garderobenständer, an dem schon ihr eigener Mantel hing.
Triona folgte der Aufforderung. »Entschuldige, dass ich einfach so hereinplatze. Ich hab versucht, dich mit einer E-Mail vorzuwarnen, aber mein Computer will im Moment nicht. Muss einen Virus haben.« Sie schnitt eine Grimasse. »Ich hab’s sowieso nicht mit der Technik.«
Frances wusste immer noch nicht, ob es für den Besuch einen konkreten Grund gab; sie deutete auf einen Stuhl. »Willst du dich nicht setzen? Kann ich dir einen Kaffee oder sonst was besorgen?«
»Keine Zeit.« Triona sah auf die Uhr. »Ich habe einen Termin. Für einen Ultraschall. Ich war bei meiner Hausärztin, und sie meinte, es könnte nicht schaden, schon jetzt einen zu machen. Ich bin über dreißig – uralt, weißt du. Ich wollte dich nur fragen, ob du vielleicht mitkommen könntest – Händchen halten, sozusagen.«
Was auch immer auf Frances’ Terminkalender stand, konnte warten. »Ja, selbstverständlich«, sagte sie prompt und
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