Schuldig wer vergisst
wieder ein bisschen, sie zu bevormunden, war eifersüchtig auf ihre Freundschaften mit Arbeitskollegen, doch als sie erst verheiratet waren, wurde alles noch viel schlimmer: Sie durfte mit niemandem Zeit verbringen außer mit ihm. Dann kaufte er das Haus in Paddington und machte sich selbstständig, wodurch sie praktisch von jedem anderen Menschen und von ihrem alten Leben abgeschnitten war.
Rachel rieb sich zwar ein wenig daran, doch sie war ein ziemlich kompromissbereites – ja duldsames – Wesen, und es war nicht ihre Art, sich ihm offen zu widersetzen.
Eines Tages spielte sie gerade ein wenig auf ihrem Laptop herum und surfte im Internet, als sie über findagain.co stolperte.
Sie wurde spontan Mitglied, aber der erste Kontakt kam von der anderen Seite: von einem jungen Mann, der für
kurze Zeit an der Schule ihr Freund gewesen war. Ihre Beziehung war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Abdul Mahmoud war das Kind pakistanischer Immigranten, und seine Eltern hatten gegen die Verbindung noch mehr Widerstand geleistet als ihre eigenen. Ihre Eltern waren von seiner Hautfarbe nicht begeistert, und seine, fromme Muslime, lehnten Rachel als Ungläubige ab. Sie waren beide noch sehr jung gewesen und hatten sich in die Trennung gefügt.
Dabei konnte Rachel Abdul nie ganz vergessen und musste immer wieder an die wunderbaren heimlichen Küsse in einsamen Schulfluren zurückdenken, an wenige verstohlene Rendezvous und schüchterne Zärtlichkeiten in der hintersten Kinoreihe. Wenn Trevor besonders schwierig war, schwelgte sie manchmal in der Erinnerung an Abdul und wagte sich auszumalen, wie es wohl gewesen wäre, wenn sie sich ihren Eltern widersetzt und ihr Leben zusammen gestaltet hätten.
Als er per E-Mail Kontakt mit ihr aufnahm, konnte sie es vor Freude – wie auch vor Angst – kaum fassen. Freude bei dem Gedanken, Abdul wiederzusehen, und Angst davor, dass Trevor dahinterkommen könnte und die Situation außer Kontrolle geriet.
Aber Trevor fand es nicht heraus. Nach einigen Wochen, in denen sie sich täglich Dutzende Mails geschickt hatten, verabredeten Rachel und Abdul sich, und die Situation geriet tatsächlich gänzlich außer Kontrolle.
Sie und Trevor hatten lange versucht, ein Baby zu bekommen. Das war ein Grund, weshalb sie geheiratet hatten: Trevor wünschte sich sehnlichst ein Kind und wollte sie vorher zu seiner Frau machen.
Als sie feststellte, dass sie schwanger war, wusste sie allerdings nicht mit Sicherheit, wessen Baby es war.
Unter anderen Umständen wäre es vielleicht nicht so schlimm gewesen; sie wäre vielleicht damit durchgekommen. Doch sie und Trevor waren beide blond – und Abdul
nicht. Rachel verstand natürlich aus dem Biologieunterricht der Oberstufe genug von Genetik, um zu wissen, dass das Baby, falls Abdul der Vater war, nicht blond sein konnte, wie Trevor es erwartete. Je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr geriet Rachel in Panik. Sobald das Kind zur Welt käme, wüsste Trevor Bescheid. Er würde sie umbringen.
Daran hegte sie nicht den geringsten Zweifel. Er liebte sie so total, so besitzergreifend; er war sich ihrer so sicher. Angesichts des lebenden Beweises dafür, dass es einen anderen Mann für sie gab, würde er sie töten.
Und was noch schlimmer war: Er würde möglicherweise ihrem Baby etwas antun. Ihr Kindheitstrauma elterlicher Gewalt, das sie so lange hatte verdrängen können, stand ihr wieder vor Augen. Sie erzählte Frances von ihrem herrschsüchtigen, brutalen Vater, dem Mann, vor dem sie ironischerweise in Trevors Arme geflüchtet war. Die Geschichte drohte sich zu wiederholen; Trevor hatte sich in ihren Vater verwandelt, und das Wohlergehen ihres Babys stand auf dem Spiel.
Je näher der Geburtstermin rückte, desto verzweifelter suchte das heimliche Paar nach einer Lösung.
Der Plan reifte im Verlauf mehrerer Wochen heran.
Trevor war ein Gewohnheitstier; das kam ihnen zugute. Er ging jeden Tag um die gleiche Zeit joggen, sommers wie winters, bei Regen und bei Sonnenschein. Er nahm stets dieselbe Route am Kanal entlang. Folglich brauchte Abdul nichts weiter zu tun, als in einem Hinterhalt auf ihn zu warten – und zwar an einer Stelle im toten Winkel der Überwachungskameras.
Es gab mehrere fehlgeschlagene Versuche, bei denen ein störender Passant ihnen einen Strich durch die Rechnung machte. Doch dann waren eines Tages die Bedingungen perfekt: ein Morgen mit miserablem Wetter, mit schweren, anhaltenden Regenfällen, von denen sich höchstens
Weitere Kostenlose Bücher