Schuldig wer vergisst
Peter das Hemd auf. »Er lädt dich ins La Venezia ein! Wurde aber auch langsam Zeit. Dann will er dich seiner Familie vorstellen?«
»Hat er nicht gesagt«, gab sie zu.
»Aber darum muss es gehen. Das ist großartig!«
Es zuckte um Callies Mundwinkel, während sie nach dem Hemd griff. »Ich bin froh, dass du so denkst. Jetzt, wo es so weit ist, bin ich mir gar nicht mal sicher, ob ich seine Familie wirklich kennenlernen will.«
»Wie oft muss ich dir das noch sagen, Callie? Schwimm mit dem Strom. Und halte Marco mit beiden Händen fest. Der Mann ist was fürs Leben. Überhaupt kein Vergleich zu diesem Wie-hieß-er-noch-gleich.«
»Adam.«
Peter zuckte die Achseln. »Ist auch egal. Schnee von gestern. Du hast Marco gern, stimmt’s?«
»Natürlich, aber …«
»Worauf wartest du dann noch? Lerne die Familie kennen, sieh einfach, was passiert. Und«, fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu, »falls nichts anderes dabei rauskommt, auf jeden Fall ein köstliches Essen. Darauf hast du mein Wort.«
Alex brannte darauf, sich die Briefe anzusehen, doch sie hatte keine Zeit. Sie wusste nicht, wie lange sie bis zur Paddington Station brauchte und was die Fahrt kostete. Sie wollte auf keinen Fall zu spät kommen. Ihr Vater war mit dem Taschengeld immer großzügig gewesen, und Alex’ Bedürfnisse waren minimal – ein paar Tüten Knabberzeug und Schokoriegel pro Woche. Daher hatte sie ein Bündel Zehn-Pfund-Noten in ihrer Sockenschublade verstaut. Sie machte sie auf und stopfte sich eine Handvoll Scheine in die Tasche ihrer Jeans, man konnte ja nie wissen.
Alex steckte den Kopf aus der Tür und schlich ins Wohnzimmer. Sie hörte Jilly im Elternschlafzimmer am Telefon: Wahrscheinlich berichtete sie ihrer Schwester gerade mal wieder von Alex’ Untaten.
Tja, Pech.
Alex nahm ihren Mantel vom Stuhl, stopfte das Bündel Briefe in eine der tiefen Taschen, öffnete die Wohnungstür, schlüpfte hinaus und zog sie lautlos hinter sich zu. Jilly würde zumindest in den nächsten Stunden nichts merken, falls überhaupt. Wenn Alex in ihrem Zimmer war, ließ Jilly
sie immer in Ruhe. Ihr Dad steckte gewöhnlich den Kopf herein, um ihr guten Abend zu sagen, wenn er von der Arbeit kam, doch bis dahin war noch viel Zeit. Da war sie vermutlich schon wieder zu Hause, und mit ein bisschen Glück hätte sie niemand vermisst.
Draußen war es dunkel, und es wurde schon wieder kälter. Alex lief zur U-Bahn-Station St. John’s Wood; ihr Atem bildete vor ihrem Gesicht eine frostige Wolke. Sie konnte nicht allzu schnell laufen, denn die Bürgersteige waren glatt von der überfrierenden Nässe, und ihre Trainingsschuhe hatten rutschige Sohlen. Sie musste folglich der Versuchung widerstehen zu rennen. Das fiel ihr ziemlich schwer; einmal lief sie doch etwas schneller, rutschte prompt aus und fiel aufs Pflaster.
»Vorsicht, kleines Mädchen«, mahnte sie ein alter Mann, der ihr eine Hand hinstreckte, um ihr aufzuhelfen.
»Danke.« Alex lächelte ihm zu und lief vorsichtiger weiter.
Ein paar Touristen – in mittlerem Alter, mit ihren Kameras um den Hals so offensichtlich Besucher, dass sie ebenso ein Schild auf der Brust hätten tragen können – kamen aus der U-Bahn-Station, als Alex sie erreichte. »Abbey Road?«, sagte einer von ihnen mit einem breiten amerikanischen Akzent. Alex zeigte in die Richtung. »Da lang«, sagte sie. Es war nicht das erste Mal, dass sie gefragt wurde, wenn sie in St. John’s Wood unterwegs war, doch sie hatte nie verstanden, wieso die Leute darum so ein Theater machten. Die Beatles waren vor ungefähr hundert Jahren berühmt gewesen. Noch bevor ihr Dad geboren wurde.
Sie war noch nie in ihrem Leben U-Bahn gefahren. Bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen sie mit ihrem Vater und Jilly ausgegangen war, hatten sie seinen Wagen oder ein Taxi genommen. Aber was sollte daran schon so schwer sein? Eine Menge Leute machten das täglich. Es gab einen Fahrscheinautomaten; sie steckte eine Zehn-Pfund-Note hinein,
doch sie wurde wieder ausgespuckt. »Kein Wechselgeld«, hieß es auf der Digitalanzeige. Also ging Alex an den Fahrkartenschalter und schob ihr Geld durch die Öffnung. »Paddington, Rückfahrkarte«, sagte sie in möglichst selbstbewusstem Ton.
Zusammen mit ihren Tickets und dem Wechselgeld bekam sie die Bestätigung, dass die Probleme damit noch nicht gelöst waren. »Umsteigen in Baker Street«, sagte die Dame am Schalter freundlich. »Bakerloo, Circle oder Hammersmith und
Weitere Kostenlose Bücher