Schuldig wer vergisst
wirbelte mit einem strahlenden Lächeln herum. Niemand außer Jack kannte sie unter ihrem Pseudonym.
Doch derjenige, der sie angesprochen hatte, war nicht der gut aussehende Junge, den sie von dem oft geküssten Foto in ihrem Medaillon kannte. Das hier war ein Mann. Ein alter Mann, älter als ihr Dad. Dicker als ihr Dad. Mit weniger Haar als ihr Dad. Auch wenn er eine rote Baseballmütze trug, sah sie, dass er darunter kaum Haare hatte.
»Sasha?«, wiederholte er grinsend. Er hatte schlechte Zähne.
»Sie sind nicht Jack.« Ihr war gar nicht bewusst, dass sie es laut gesagt hatte – energisch -, bis er nickte.
»Bin ich wohl. Wenn du jetzt sauer auf mich bist, weil ich nicht viel Ähnlichkeit mit dem Foto habe … na ja, Sasha, du siehst auch nicht ganz so wie auf deinem aus.« Er grinste wieder – diese schrecklichen Zähne – und machte einen Schritt auf sie zu. »Ich beklage mich nicht, wenn du es auch nicht tust.«
»Nein.« Alex konnte sich von seinem Anblick nicht losreißen, während sie blind zurücktrat. Er kam weiter auf sie zu.
»Ich tu dir nix«, sagte er. »Komm schon, Sasha. Gehen wir und holen uns einen Burger. Wir können viel Spaß miteinander haben.«
»Nein.«
Er streckte die Hand nach ihr aus und streichelte ihre Wange.
Erst jetzt drehte sie sich um und rannte durch den belebten Sackbahnhof, als ginge es um ihr Leben. Sie entdeckte einen schmalen Spalt zwischen zwei Reisenden, die Koffer hinter sich herzogen, und quetschte sich zwischen ihnen hindurch, um zum Ausgang zu sprinten. »Sasha!«, hörte sie ihn rufen, aber sie schaute sich nicht noch einmal um.
Frances nahm gewöhnlich den Bus nach Notting Hill, wo sie zu Hause war, doch an diesem Tag beschloss sie zu laufen. Die Busse waren rappelvoll, und obwohl es mit zunehmender
Dunkelheit auch kälter wurde, hatte sie das Gefühl, frische Luft zu brauchen. Am späten Nachmittag war es ihr im Krankenhaus stickig vorgekommen, überheizt und ohne Sauerstoff.
Als sie zügig den Bürgersteig entlanglief, wünschte sie sich, Leo wäre nicht so weit weg. Einen von seinen praktischen Ratschlägen hätte sie jetzt gut brauchen können, und eine von seinen ungestümen Umarmungen auch.
Nun denn, rief sich Frances ins Gedächtnis, auch Ehemänner sind für so etwas da. Mit ein bisschen Glück wäre Graham zu Hause.
Er saß in seinem Arbeitszimmer und schrieb.
»Hast du Zeit, ein bisschen zu reden?«, fragte Frances, als sie den Kopf zur Tür hereinsteckte.
Graham legte den Stift augenblicklich zur Seite und antwortete: »Für dich immer.« Er sah sie kritisch über seine Lesebrille hinweg an. »Du siehst ja halb erfroren aus, Schatz! Dein Gesicht ist röter als dein Haar!«
»Ich friere auch ein bisschen«, gab sie zu.
Er ging zu ihr und nahm ihre Wangen in seine warmen Hände. »Du brauchst eine Tasse Tee«, erklärte er. Frances folgte ihrem Mann in die Küche und überließ es ihm, das Wasser aufzusetzen, während sie ihre Handschuhe auszog und sich die Hände über der Heizung wärmte.
Graham hatte schon einige Jährchen mehr als Priester auf dem Buckel als Frances. Auch wenn sie wusste, dass es ihr nicht zustand, ihm von Rachels Geschichte zu erzählen, konnte es nicht schaden, von seiner Erfahrung zu profitieren, um damit fertig zu werden. »Liebling«, fing sie an. »Kann ich dich um einen Rat bitten?« Ohne seine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort. »Heute ist was passiert. Jemand hat mir etwas … Wichtiges anvertraut.«
Er hörte auf, mit den Küchenutensilien zu hantieren, und drehte sich zu ihr um.
»Etwas Wichtiges?«
Die Art, wie er das sagte und die Stirn runzelte, trieb sie in die Defensive. »Ja, ja, schon gut, alles, was mir irgendjemand erzählt, ist wichtig. Für den Betreffenden. Manchmal auch für andere – aber das hier ist mehr.« Wie viel durfte sie sagen? »Es ist wichtig … für die Polizei. Für ihre Ermittlungen zu einem Verbrechen.«
Er öffnete einen Küchenschrank und holte zwei Becher heraus. »Demnach verfügst du über eine Information, die der Polizei helfen würde – etwas, das sie nicht wissen.« Es war eher eine Feststellung als eine Frage.
Frances nickte.
»Ist das Leben eines Menschen in Gefahr?«
»Nein. Nicht mehr.«
»Und du hast dieser … Person … versprochen, es niemandem zu erzählen?«, vermutete er.
»Als Priesterin. Ich habe mein Wort gegeben.«
»Ich denke, dann kennst du die Antwort, Fran.« Graham goss kochendes Wasser in die Kanne. »Es ist schwer. Das gehört zu
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