Schuldlos ohne Schuld
verbergen Hinterhöfe mit Schrott und Holzlagern. In den Häusern, die aus den zwanziger Jahren stammen, befinden sich Büros, aber alle, die dort arbeiten, sind nach Hause gegangen. Einige Straßen weiter leuchtet das Schild der U-Bahnstation. Dorthin ist Martin unterwegs.
An ihrem Verhalten sieht er sofort, dass die drei auf Streit aus sind. Sie sind sehr gut gekleidet, als entstammten sie einem Modekatalog. Es sind junge Leute der Oberklasse, die in diesen Teil der Stadt gekommen sind, um dem einen oder anderen herumstreichenden Arbeiter eine Lektion zu erteilen. Martin kennt den Typ. Es ist der Feind auf dem Marsch.
Der Anführer, ein Jüngling ohne Kopfbedeckung mit Adlernase und kunstvoller Frisur, schlendert in der Mitte des Weges, nonchalant und übermütig, gleichzeitig herausfordernd. Die beiden Freunde, sehr blond und von einer Ähnlichkeit, als wären es Zwillinge, flankieren ihn an den einander gegenüberliegenden Hauswänden. Ihre gesunde Hautfarbe könnte auf der Glasveranda eines Hochgebirgshotels entstanden sein; sie haben kräftige Stiefel an den Füßen. Martin kann keine Waffe entdecken, das beruhigt ihn aber nicht. Alle drei sehen trainiert aus, und obwohl sie angetrunken wirken, sind sie doch fest genug auf den Beinen, um ihre Karatetritte austeilen zu können.
Es ist zu spät umzukehren.
Martin verwirft den Gedanken, noch bevor er ihn zu Ende gedacht hat. Er würde sich selbst verachten, wenn er davonrennen würde. Die Flucht wäre außerdem sinnlos. In wenigen Sekunden hätten die drei ihn gehabt.
Martin weiß, dass sie ihn begrüßen, einige Worte wechseln und dann zuschlagen wollen. Dies ist eine Art Ritual, das eingehalten werden muss. Er entscheidet sich, vom Trottoir herunterzugehen, damit die drei Männer ihn nicht gemeinsam gegen die Hauswand drängen können.
In einer solchen Situation wäre er völlig ohne Chance. Er versucht unbeschwert zu wirken, als hätte er sie nicht bemerkt und ahnte nicht, was sie planen. Martin will sie nicht provozieren. Es hilft nichts.
Der Anführer kommt auf Martin zu und streckt seine Arme aus, um ihn am Weitergehen zu hindern. Der Abstand zwischen ihnen beträgt jetzt noch weniger als einen Meter. Die beiden anderen Burschen haben an den Seiten dicht aufgeschlossen.
»Guten Abend, Onkel«, sagt der Anführer mit weicher, singender Stimme und senkt übertrieben höflich den Kopf.
Martin antwortet nicht, macht aber auch keinen Schritt zurück.
»In der Nacht spazieren gehen«, fährt der mit der Adlernase fort. »Das kann hier in der Gegend gefährlich sein. Wenigstens, wenn man allein unterwegs ist.«
»Was wollt ihr?« fragt Martin.
Er hat keine Angst. Der Bursche hat ihn »Onkel« genannt, um seine Geringschätzung auszudrücken. Von »Onkel« ist der Schritt nicht weit zu »Alter«, und die sind ungefährlich. Die haben keine Kraft mehr. Obwohl es drei sind, glaubt Martin, dass er mit ihnen fertig werden kann. Die beiden blonden Zwillinge sehen schmächtig aus.
Martin geht einen Schritt zurück und wirft sich in die Brust. Jetzt will er ihnen zeigen, mit wem sie es zu tun haben. Unter der Daunenjacke sind beeindruckende Muskeln, und obwohl Martin seit dem Eintritt ins Erwachsenenalter bei keiner Schlägerei mehr Gebrauch von ihnen gemacht hat, hat allein ihr Anblick ihn schon viele Male vor Bedrohung geschützt.
»Schau mal an«, sagt der Anführer und nickt anerkennend, als sei er von Martins Vorführung beeindruckt. »Das ist ja ein richtiges Muskelpaket, auf das wir gestoßen sind«, fährt er fort und zeigt eine blendende Zahnreihe. Seine beiden Freunde nicken dazu neunmalklug.
Dann lacht der Anführer. Ganz plötzlich und unerwartet. Es ist ein sonderbares Lachen, fast mädchenhaft albern, und als die beiden anderen mit ihren hellen Stimmen einfallen, klingt das, also ob eine Schar hungriger Möwen im Sturzflug durch die Gasse schwirrt.
Ebenso plötzlich wird es völlig still.
»Ja was wollen wir denn?«
»Was in aller Welt, könnten wir denn wollen?«
Es sind die Zwillinge, die sprechen. Im Chor.
»Wir könnten um Zigaretten bitten«, setzt der eine von ihnen fort und erhält ein bestätigendes Nicken von dem anderen.
»Hat der Onkel weiße Prince?«
»Es wäre sehr unglücklich, wenn der Onkel keine weiße Prince hätte.«
»Wirklich richtig fatal.«
»Das ist nämlich die einzige Marke, die wir rauchen.«
Dieser Zwilling hat zu lispeln begonnen. Indem er das Lispeln verstärkt, verstärkt sich auch die Drohung. Sie ist
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