Schule der Armen
schien es mir wenigstens, mit erstklassigen Parkanlagen, Sonnenschein, mit funkelnagelneuem Meer und auserlesenen Wolken am Himmel. Ich forderte verzweifelt von meinen Eltern, sofort umzusiedeln, weil drüben eine Musikkapelle spielte, die Gäste Eis aßen und alle Zeichen darauf deuteten, daß die Menschen dort glücklich waren. Aber die Eltern vermochten meinen Wunsch nicht zu erfüllen. Deshalb verreise ich auch heute nicht in die Sommerfrische, denn es wäre mir geradezu unerträglich, statt im schönsten Zimmer des besten Hotels im allerteuersten Kurort – irgendwo daneben zu wohnen; das beleidigte Gefühl meiner Jugend, die bittere Erinnerung der Verbannung aus dem Paradies würde mich überallhin verfolgen, wo es ein erst- und zweitklassiges Leben gibt und wo ich das letztere wählen müßte. Dann bleibe ich schon lieber in meiner eigenen, in ihrer Art und Weise erstklassigen Welt und fahre im Sommer mit einem Autobusfahrschein erster Klasse in ein Donaubad, verreise aber nicht zweiter Klasse nach Ostende in ein sogenanntes »Familienhotel«. Wie wir später sehen werden, ist es weder möglich noch lohnend, die Armut zu ertragen, ohne anspruchsvoll zu sein.
So litt ich unter dem Bewußtsein meiner Armut, bis Dichter und Frauen mich lehrten, daß man mit einer seltsamen Kunst und viel Übung den dumpfen, nie nachlassenden Schmerz, den die Armut verursacht, mildern kann. Und dank meiner schon früh entwickelten Begabung eignete ich mir verhältnismäßig schnell diese Methode an, die wir mit dem Fachwort »Kunst der Umdichtung« bezeichnen können. Dieses komplizierte, eine subtile und höchste geistige Kraftanstrengung fordernde Verfahren, durch welches das Leben der Armen ins Tragbare umgewandelt wird, betrachte ich als Grundpfeiler der Ars vivendi. Die Armen reden unter sich ganz offen über die Spielarten der Umdichtung, ungefähr so, wie die Bewohner einer Leprasiedlung über die Möglichkeiten der Anwendung eines neuen Heilverfahrens sprechen.
Es ist äußerst schwierig, bei der »Umdichtung« zu einer künstlerischen Vollkommenheit zu gelangen, wenn es aber einmal gelingt, dann trägt der Arme mit Leichtigkeit selbst die drückendsten Abschnitte seines Lebens. Die erste Regel der Theorie der »Umdichtung« lautet, daß man das Leben so sehen soll, wie es tatsächlich ist. Es wäre ein primitives Verfahren und vollkommen zwecklos, wenn der Arme versuchen wollte, sich die Welt anderswie vorzustellen, da man die Welt nicht umdichten kann, denn sie ist, mit Schopenhauer gesprochen, ein Phänomen des Willens und der Einbildung, jedoch auch das Phänomen des gewalttätigen Willens und der barbarischen Einbildung, zu denen kein Armer fähig ist; darum vermögen sie die Welt auch nie zu ändern.
Der Arme muß sich also mit der Erkenntnis begnügen und sich darein fügen, daß die Welt genau dem Bild entspricht, welches er sich geschaffen hat, manchmal um einen Grad sanfter, mit einer weniger harten und grellen Schattierung, aber das sind bestimmt nur vorübergehende Symptome. Die Welt ist kein Zufall und keine Absicht, sondern Realität, genau wie die Armut, Parteien, Kriege, Krankheiten, Gefängnisse und Galgen real sind; sie ist so, weil es ihrer Natur entspricht und weil sie sich in diesem Zustand wohlfühlt. Diese Wirklichkeit erträglicher zu gestalten, oder besser gesagt, »umzudichten«, vermag nicht einmal ein Genie. Arme, die von einer anderen Welt träumen, sind ungeschickt, vollends hoffnungslos jene, die versuchen, der Welt im Traum eine andere Deutung zu geben. In der Jugend träumt der Mensch, besonders wenn er dazu noch arm ist, manchmal von einer Welt, die sich weiterentwickelt, in der die Armut ausstirbt, von der Morgendämmerung einer neuen und besseren Zeit und legt seine Wunschbilder durchaus in gebundener oder gehefteter Form schriftlich nieder.
Es ist die Phantasmagorie der Jugend, das krankhafte Spiel der Einbildung, welches auf dem Boden der Unerfahrenheit wuchert. Die Armut und die Jugend ähneln sich in manchem, beide sind erfüllt von träumerischen Elementen. Um so unerträglicher ist das Erwachen zur Wirklichkeit; über diesen tragischen Augenblick hilft nichts anderes hinweg als die rechtzeitig geübte und erlernte Umdichtung.
Der Arme kann die Welt nicht umdichten – ein hoffnungsloses und kindisches Unternehmen –, dann schon eher sein Verhältnis zur Welt, was auch keine leichte Aufgabe ist. Ein überaus begabter Armer, Herr H.B., mit dem ich über die Kunst der
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