Schule der Armen
einer gewissen Gleichgültigkeit, nichts kommt ihm nahe, was uns schmerzt, und unsere Freude bringt sein Blut nicht heftiger in Wallung, als wenn wir uns mangels anderer Beschäftigung künstlich am Exotischen berauschen wollten.
Ebenso verbreitet ist die schon feinere und gehobenere Stufe der Kunstart, die »romantische Umdichtung«. Wir verstehen unter den Liebhabern dieser Kunstart jene Armen, die sich durch bewußte und ununterbrochene Beschwörung einer Traumwelt betäuben und so den Realitäten des Lebens zu entrinnen suchen. Ihre Zimmer sind vollgestopft mit Photographien, Möbeln und allerlei Krimskrams aus einer Zeit, die mindestens fünfzig Jahre zurückliegt. Hartnäckig lehnen sie jeden Gebrauchsgegenstand, jede Unterhaltung und jedes Beförderungsmittel ab, die sie an die Gegenwart erinnern könnten. Es gibt unter ihnen Autobuskontrolleure oder Flugzeugmechaniker, die zu Hause in ihrem möblierten Zimmer die Pellkartoffeln aus der mit einem gehäkelten Deckchen verhüllten Schüssel herausholen oder sich abends im Familienkreis ans Spinett setzen, um Romanzen mit dem Text: »Éloignez-vous, Ernest, éloignez-vous!« zu singen.
Wer sich ins Romantische umdichtet, fühlt sich nicht so sehr von der direkten Armut betroffen, sondern eher von der zeitgenössischen Atmosphäre der Armut. Er meint, daß die Armut vor fünfzig oder hundert Jahren ein edlerer, angenehmerer und vornehmerer Zustand gewesen sei als heutzutage. Nach ihm ist die Armut des Bach-Regimes nicht gleichzustellen mit jener des Ford-Zeitalters, eine Ansicht, mit der er im politischen Sinne auch recht haben kann. Er verachtet also tief die gegenwärtige Armut und empfindet sie als demütigend. Halten wir ihm die Liste der modernen Errungenschaften vor, die allgemeinen Bequemlichkeiten des letzten Jahrhunderts, die Elektrizität, den Verkehr, das Wahlrecht, den Mieterschutz, die freie Arztwahl und alle Vorteile, die die Armen in einem zivilisierten Land genießen, dann winkt er voller Verachtung ab und beruft sich auf die Pferdebahn, Ludwig Kossuth und die Operettenprimadonna Klara Küry. In Wahrheit genießt und erkennt er nur das als menschlich und wahr an, was er an Erinnerungen, Gewohnheiten, Mode, gesellschaftlichem Leben weltanschaulich und in der Lebensform aus der Vergangenheit herüberzuretten vermochte. Die Armut betrachtet er als Folgeerscheinung der Zivilisation.
Vergebens erklären wir ihm, daß tausend Jahre vor Christi Geburt der Arme viel unbequemer und unsauberer arm war als heutzutage, vergebens trachten wir, ihm zu beweisen, daß es doch bequemer ist, mit der Untergrundbahn von einem Ende von Paris bis zum anderen zu fahren, als zur Zeit des Zweiten Kaiserreichs die gleiche Strecke zu Fuß zurückzulegen, vergebens trösten wir ihn mit der Feststellung, daß heute weniger Arme an Tuberkulose sterben als zur Zeit des Bach-Regimes und daß die Säuglingssterblichkeit in den Familien der Armen geringer ist als zur Zeit Alexanders des Großen.
Die Jünger der romantischen Umdichtung rufen sich Gerüche, Farben und Muster der Vergangenheit in die Erinnerung zurück, und als hätten sie den Untergang von Atlantis überlebt, bewegen sie sich zimperlich und mit wehleidigem Lächeln in dieser barbarischen Welt, die qualitativ und moralisch, kulturell und im Rechtsempfinden weit hinter jener Welt zurückgeblieben ist, die sie zuvor gekannt haben. Sie bereiten ihre Speisen nach alten Rezepten zu, sind verliebt, beleidigt und versöhnen sich nach der Art von vor dreißig Jahren, und selbst ihr Armsein ist antiquiert. Sie sind prüde und gleichzeitig hochmütig. Sie legen großen Wert aufs Titulieren, besonders wenn sie es auf der Rangleiter von oben nach unten tun können. Das Zufußgehen betrachten sie als eine Kulturaufgabe im Vergleich zum profanen Trambahnfahren, sie bespritzen ihre Armut mit Lavendelwasser und verhüllen sie mit gehäkelten Deckchen in der Meinung, sie sei dann hübscher. Wagt es jemand, gesprächsweise darauf hinzuweisen, daß Eckener den Nordpol überflogen oder daß Koch den Tuberkulosebazillus gefunden habe, dann winken sie verächtlich ab.
Wie bei der exotischen Umdichtung ist die Triebkraft dieser Methode die Ablehnung der Wirklichkeit und zugleich die Betrachtung der eigenen Lage von einem konstruierten Gesichtspunkt aus. Dem Armen mit bescheidenen Ansprüchen genügen diese beiden primitiven Abarten der Umdichtung; der anspruchsvolle und begabte Arme dagegen begnügt sich nicht mit diesem gekünstelten
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