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Schule der Armen

Schule der Armen

Titel: Schule der Armen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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spät kommen kann, nicht wert ist, die Wohnung überhaupt zu verlassen. Ich speiste mit Windeseile, um anderswo den schwarzen Kaffee trinken zu können! – noch nachträglich steigt mir bei dem Gedanken an meine peinlichen Fehltritte die Schamröte ins Gesicht. Ich schrieb nicht, wenn ich Lust dazu hatte, sondern wenn »die Zeit es mir erlaubte«, ich speiste und zerstreute mich nicht dann, schlief nicht so viel und so lang, wann und wie mein Organismus oder mein Spleen es erforderte, sondern je nachdem ich meine Wünsche und Absichten zwischen zwei zeitliche Schranken zwängen konnte. Ich wußte nicht, welche Wonne es ist, irgend etwas »Zeit zu widmen« – ja, im wahrsten Sinne des Wortes widmen, dem Händewaschen, dem menschlichen Gesicht, der Bewegung eines Tieres Zeit zu opfern (bewundern wir die Subtilität der Sprache) –, einer Zigarette, einem Getränk, dem Geschmack eines Bissens, kurzum, in der Zeit zu leben. Nur der Arme weiß dies ganz genau.
    Der Reichtum ist eine ununterbrochene Beschäftigung, irgendwie gleich einem vornehmen Amt; der Reiche verteidigt dauernd etwas, der Arme verschwendet unentwegt. Er verschwendet die Zeit und versäumt schrecklich wenig. Die Zeit löst, gleich einer stark wirkenden chemischen Substanz, die Welt in Partikelchen auf und bringt ihre zuvor nicht erkannten Eigenschaften zutage. Die erste Bedingung einer jeden Umdichtung ist die unbeschränkte Zeit. Wer sich eilt, gehört zurück in die Gesellschaft. Wer uns begleiten will, der hat Muße, wer sich den Ritus der Armut aneignen will, zahlt sein Schulgeld mit der Valuta der Zeit.
    Außerhalb der Gesellschaft und im Besitz der rückeroberten Zeit begannen meine abgestumpften Sinne sich wieder zu beleben, langsam begann ich zu genesen und bekam wieder menschliche Farbe, es kam sogar vor, daß ich, wenn auch zögernd und gebrochen, einige zusammenhängende Sätze sprach. Innerhalb der Gesellschaft nämlich durfte ich bekanntlich nur von zweckmäßigen Dingen sprechen. Ich wurde mir meines Lebens bewußt, hatte Zeit, um meine Stellung in der Welt zu erkennen und die Aufgaben, zu denen ich berufen war, in einem System zusammenzufassen. Damals begriff ich, daß mein Lebensziel keinesfalls eine »Karriere«, keinesfalls die Gesamtheit der variierten Niederträchtigkeiten und der Geschäftigkeit ist, die man im allgemeinen als Laufbahn bezeichnet, sondern einfach: mit geringsten Reibungen gewonnene, möglichst verinnerlichte Kenntnis der Welt.
    Um dies zu erreichen, mußte ich ein wenig beiseite stehen, mich von allem distanzieren, was im Leben Erfolg bedeutet. Es schien mir, als wäre der Erfolg der Lohn dümmster und niedrigster Handlungen, während die wirklich Weisen sich so wenig um den Erfolg kümmern wie um einen Hosenknopf. Die Freude eines intellektuellen Menschen über die kritiklosen Lobpreisungen eines ästhetischen Dilettanten ist mir unverständlich. Mit diesen Erkenntnissen, und nunmehr im Besitz meiner unbeschränkten Zeit, verließ ich die Gesellschaft und widmete mein Leben nach dem Beispiel der Zyniker, mit zeitgemäßen Abänderungen, der heiteren und vornehmen Umdichtung.
    Wie sieht eigentlich die ideale Umdichtung aus? Am ehesten kann ich es begreiflich machen, wenn ich den Verlauf eines Tages aus meinem Leben erzähle. Wunder erwarte der Leser nicht; ich trachte, das einfachste Beispiel zu wählen, denn des Lebens große, radikale Lösungen muten immer als sehr einfach an, und das Wunder äußert sich vielleicht nur darin, daß man die Lösung des Lebensrätsels mit Worten nicht ausdrücken darf, daß es verboten ist, den letzten Sinn auszusprechen – wie bei den Juden den Namen Gottes. Vor allem richtete ich mein Leben so ein, daß ich über jede Stunde des Tages und der Nacht unbeschränkt und frei verfügen konnte. Der Leser rufe mir nicht zu: »Dann ist es freilich sehr leicht!« Das Geheimnis liegt darin, daß es ohne Geld nicht leicht sein kann, denn ich habe ja meine schrankenlose Freiheit nicht durch eine materielle Unabhängigkeit erworben. Ich könnte, wenn ich wollte, notgedrungen eine Beschäftigung wählen, um zu Geld zu kommen, oder zehn Stunden lang täglich in einem Büro, in einer Fabrik oder in einem Geschäftslokal vermodern, und ich könnte mich ohne besondere Schwierigkeiten in einer dieser öden Gefängniszellen der Zivilisation auf ewig vergraben. Da ich weder Geld noch Vermögen irgendwelcher Art besitze, hätte ich Grund genug, eine dieser abhängigen Stellungen anzunehmen, die

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