Schule der Armen
ich es mir zuerst vorgestellt hatte. In kürzester Zeit verbreitete sich das Gerücht, ich sei nicht mehr richtig im Kopf, denn Menschen, die nur innerhalb der Gesellschaft leben können, betrachten jeden als geisteskrank, der nicht teilnimmt an ihren Zerstreuungen, Festen und ihren mit erhabenen Ideen erfüllten Unternehmungen, zum Beispiel der Denkmalsenthüllung eines längst Verstorbenen, den keiner unter uns mehr kennt, oder der Gründung eines Kulturvereins, dessen Mitglieder von Zeit zu Zeit gezwungen sind, unverständliche und langweilige Theorien anzuhören.
Kaum hatte ich der Gesellschaft den Rücken gewandt, machte ich sehr bald die Entdeckung, daß mir dank der Umdichtung das zum weltlichen Glück vornehmste und unentbehrlichste Instrument, nämlich die Zeit, in unbeschränkter Menge zur Verfügung stand. Auf einmal hatte ich für alles Zeit. Nachträglich, wenn ich es überdachte, war mir mein vorheriges aufregendes, ermüdendes und verworrenes Leben innerhalb der Gesellschaft geradezu unbegreiflich; ich stand früh auf, rannte von morgens bis abends umher, telephonierte, diktierte Briefe, las und nahm häufig ein Taxi, um ja nichts zu versäumen. Was? Ich könnte es nicht sagen.
Rückblickend auf meine in der Gesellschaft verbrachten Jahre kann ich nur bestürzt feststellen, daß die große Eile, das fieberhafte Umherrasen zwischen zwei Menschen, zwei Terminen, zwei Frauen, zwei Geldbeträgen, zwei Aufgaben mir im Endergebnis weder materielle noch geistige Güter eingebracht hat; denn ich bin heute so arm wie vor zehn Jahren, und was ich mit diesem lächerlichen Rummel verdient habe, das fiel mir immer nur zufällig in den Schoß, meist bei Gelegenheiten, wo ich nicht einmal den kleinen Finger zu bewegen brauchte, um es einzustecken. Zeitweise zum Beispiel wagte ich, aus Sorge, etwas zu versäumen, kaum mehr zu schlafen. Dann kaufte ich eine Weckuhr, um ja rechtzeitig aufzuwachen und nichts zu verpassen, und trug aus dem gleichen Grund eine Taschen- wie auch eine Armbanduhr.
Bei meinem Rückzug aus der Gesellschaft erschien mir das vorher Notwendige als überflüssig, und ich verkaufte sämtliche Uhren. Jetzt besitze ich überhaupt keine Uhr mehr, und ich habe noch keine vermißt. Die in ihrer heutigen Form bekannte Uhr erfand ein dänischer genialer Kerl namens Jürgensen, damit zwei Menschen sich zur verabredeten Zeit pünktlich treffen können. Da ich nur sehr wenige Menschen treffen will und unter keinen Umständen solche, die Wert darauf legen, mich auch pünktlich zur verabredeten Zeit zu treffen, erkannte ich plötzlich den stupiden Mißbrauch, den die Menschen mit der Zeit treiben. Plötzlich verfügte ich über genügend Zeit und brauchte keine Uhr mehr.
Ich nahm zur Kenntnis, daß die Sonne zu einer gewissen Zeit aufgeht und ebenso wieder untergeht, daß es manchmal hell und manchmal dunkel ist, und bemühte mich, die Unannehmlichkeiten und Annehmlichkeiten dieser beiden Tatsachen zu genießen. Allmählich erschien mir jeder, der die Zeit mit der Uhr mißt und die Unendlichkeit nach Minuten und Sekunden bewertet, so grotesk wie ein Spaziergänger, der mit komplizierten Instrumenten ununterbrochen den Druck der Luft, die er einatmet, mißt oder die Windstärke und Windgeschwindigkeit prüft, die sich ihm entgegenstemmt, oder aber mit dem Kompaß in der Hand dauernd festzustellen versucht, ob er sich auf der Straße nach Nordwesten oder Südosten bewegt. Es gibt zweifelsohne Menschen, die all dies interessiert. Mich nicht.
Zeit – du Gottesgabe! Lange genug hat es gedauert, bis ich deine wahre Natur erkannte! Nur der Arme, nur der richtige und begabte Arme weiß etwas von der Zeit. Ich raste, damit mir die Zeit »reichte«, und bemerkte zwischendurch nicht, daß eine »unzureichende« Zeit kaum etwas zu bieten vermag und darum uninteressant ist. Ich wußte noch nicht, daß nur die Zeit die Dinge ins richtige Licht zu rücken vermag und daß nur im Element der Zeit der Sinn unseres Handelns, der Sinn und Zusammenhang des Lebens sichtbar und erkennbar in Erscheinung tritt. Die kleinsten Ereignisse meines täglichen Lebens erschienen mir bedeutsam, interessant oder genußreich, sobald ich Zeit für sie erübrigen konnte. Ein interessantes Buch schnell durchzufliegen ist kein so großer Genuß, wie langsam und sich Zeit lassend die Seiten eines gehefteten Bandes aufzuschneiden. Ich raste, um mich zu einem Rendezvous nicht zu verspäten, und merkte nicht, daß ein Rendezvous, zu dem man zu
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