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Schule der Armen

Schule der Armen

Titel: Schule der Armen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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sofort, denn ich hatte von Natur aus ein stark entwickeltes moralisches Empfinden, obwohl ich mich in meiner Jugend ursprünglich auf den geistlichen Beruf vorbereiten wollte und heute noch am liebsten Trauerreden wie der Theologe und Historiker Bossuet schreiben möchte, wobei ich genau wüßte, auf wen.
    Das moralische Gefühl war, ich wiederhole es, schon seit jeher stark in mir entwickelt, und ich kann die Lehre der Zyniker als Ausgangspunkt bezeichnen zu dem meiner Ansicht nach einzig hochstehenden und vernünftigen Standpunkt, den gegenüber der Welt und dem Leben einzunehmen mir endlich gelungen ist. Dies ist eine wichtige Feststellung. Denn ich habe an dieser Stelle nachzuweisen, daß jedes Kunstwerk, so auch das Meisterwerk der Umdichtung, von seinem Schöpfer die Disziplinierung der Neigungen und die absolute Beherrschung seiner Leidenschaften fordert, um von einem künstlich ausgedachten Gesichtspunkt aus nach der Wahrheit zu streben.
    Ich zum Beispiel wollte ursprünglich gern tugendhaft, reich und glücklich sein. Den Lehren der Zyniker verdanke ich die Erkenntnis, daß der Mensch entweder tugendhaft oder aber reich und glücklich sein kann, daß sich jedoch diese beiden Zustände so wenig miteinander vermengen lassen wie Öl mit Wasser. Nachdem ich diese grundlegende Doktrin der Zyniker, nämlich daß das höchste Gut die Tugend sei, durchdacht und mit der ganzen Inbrunst meiner jungen Seele in mich aufgenommen hatte, begann ich mit Eifer nach dem Sinn der Tugend zu suchen. Von größtem Nutzen war mir bei meinen Bemühungen die Feststellung des herrlichen Voltaire, der in seinem »Dictionnaire philosophique« die Tugend folgendermaßen definiert: »Qu’est-ce que la vertue? Bienfaisance envers le prochain.« Das ist wirklich sehr einfach. Wenn wir jedoch im Sinne Voltaires und der Zyniker die Tugend näher untersuchen, erkennen wir mit Überraschung und Genugtuung, daß wir unter dem Begriff Tugend nicht die unter »Tugenden« katalogisierten Entsagungen verstehen sollen, denn, wieder nach Voltaire, es ist überhaupt nicht notwendig zu entsagen, um tugendhaft zu sein; im Sinne der Lehren meines Meisters ist jeder Mensch tugendhaft, solange er mit seinen Handlungen weder seinen Mitmenschen noch der Gemeinschaft Schaden zufügt. Das Bewußtsein, alles tun zu können, solange man die Interessen seiner Mitmenschen nicht verletzt, ist ein schöner Trost und verleiht uns das erhabene Gefühl der Freiheit. Mit dieser Feststellung befreiender Kraft weist Voltaire den Menschen sozusagen in das Paradies zurück und verleiht ihm die individuelle Handlungsfreiheit, also eine gewisse Form des Glücks, und gibt ihm dazu eine vernunftmäßige und edle Abart zur praktischen Anwendung der Tugend in die Hände.
    Im Besitz dieser bescheidenen Erkenntnisse begann ich, zuerst mehr intuitiv, mit der Zeit immer bewußter, mit der schweren Arbeit der Umdichtung. Als erstes sagte ich mir: Hier lebe ich auf dieser Erde und fühle mich unglücklich, weil ich arm bin. Das ist eine göttliche Fügung und zugleich der natürliche Zustand des Durchschnittsmenschen auf dieser Erde. Dabei ist die Armut zweifelsohne unerträglich, und zwar von verschiedenen Gesichtspunkten aus unerträglich. Erstens weil sie langweilig ist, zweitens weil es sich um einen unmoralischen Zustand handelt. Nur das Glück ist moralisch und ähnelt bis zu einem gewissen Grade der Tugend; das Glück jedoch kann ich im Rahmen irgendeiner Gesellschaft nie erreichen, denn innerhalb einer Gesellschaft zu leben, das heißt, stets auch gegen einen oder mehrere zu leben, und je vollkommener und restloser die Befriedigung des Individuums sich gestaltet, um so mehr Schaden verursacht der sich Befriedigende seinen Mitmenschen. Sich innerhalb der Gesellschaft zu befriedigen, wo das Gesetz des Angebots und der Nachfrage den Wert der Dinge bemißt, ohne dabei seinen Mitmenschen zu schaden, vermag man nur mit Hilfe von Geld; diese Methode der Entschädigung habe ich dann auch meinen Fähigkeiten entsprechend reichlich angewandt. Mein Geld reichte aber nicht aus, um meine Wünsche nach Glück restlos zu befriedigen, und deshalb war ich, um tugendhaft zu bleiben, gezwungen, eines Tages der Welt der Freuden den Rücken zu kehren. So handelten auch die Zyniker.
    Voltaire handelte nicht so, er hatte es aber leichter, denn als fünfter Sohn eines Notars im Châtelet besaß er von Haus aus Geld, und nebenbei verstand er sich ausgezeichnet auf allerhand vorteilhafte

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