Schule der Armen
des Wildreichtums oder mit politischen Meinungsverschiedenheiten zu begründen trachtet, ist trotz ihrer scheinbar wahrheitsgetreuen Beweisführung idealistisch und primitiv. Die armen Völker, denn wir wissen ja, daß es spezifisch arme und reiche Völker gibt, werden wie der Arme als Individuum nicht wegen abgegraster Weideflächen, nicht aus Eroberungs- und Raubgelüsten – letztere zweifelsohne eine elementare historische Gewalt – zum Wandern getrieben, sondern vor allem durch die quälende Unsicherheit, ob sie im Verlauf ihres geschichtlichen Völkerlebens je eine Antwort auf die Frage erhalten, warum sie eigentlich arm sind. Die reichen Völker bleiben an der Stelle seßhaft, wo sie sich niedergelassen haben, und wandern später nur aus einem Grund, nämlich um Eroberungen zu machen. Die armen Völker wandern unermüdlich von Osten nach Westen, von Europa nach Amerika, in Massen und allein. Dieser Wandertrieb ist das große gemeinsame Geheimnis aller Armen.
Wenn zwei Arme verschiedener Nationalität sich in Bombay oder Detroit treffen, erkundigen sie sich gegenseitig nicht nach dem Grund, warum sie die Heimat verlassen haben, denn für sie ist es kein Rätsel, daß beide auf der Suche nach Antwort auf die ewige Frage der Armut sind. Der Arme entschließt sich leicht und gern zum Reisen. Oft hören wir von Armen, daß sie soeben von Ankara zurückgekehrt seien und morgen nach Nürnberg reisen, wo sie ganz bestimmt niemand erwartet. Sie bereiten sich so eifrig auf die Fahrt vor, als ob sie Angst hätten, etwas zu versäumen.
Auf den Landstraßen Europas, Amerikas und Asiens zieht ein ununterbrochener Strom Millionen Armer umher, mit Rosenkränzen, mit Dietrichen, mit einer Dose Sardinen, mit echten und gefälschten Ausweispapieren in den Taschen, sie wechseln aneinander vorbei, anscheinend ziel- und zwecklos, mit hartnäckiger Eile, als ob der eine eben dort zu tun hätte, von wo der andere kommt.
Dieses ununterbrochene Schwärmen auf den Landstraßen, um die Bahnhöfe, in den belebten Straßen einer Großstadt bedeutet keinesfalls, daß die Armen ausschließlich Brot und eine neue Heimat in der Fremde suchen. Die Armen, die sich zur Wanderschaft entschließen, verfolgen kein bestimmtes Ziel, sondern die Fremde selbst. Sie ahnen, gleich Kolumbus, hinter der bekannten Welt irgendeinen unbekannten Erdteil. Und hinter der unbekannten Welt ahnen sie den Erdteil der Armen, der sie anzieht. Jeder Arme hofft, auf seinen Wanderungen eines Tages ausrufen zu können: »Land!« – und er erblickt das neue Amerika, das stets ersehnte, wo er dann endlich Anker werfen und an Land gehen kann. Darum wandert er. Auf der Suche nach der Urheimat durchwandert er, gleich dem Asienforscher Körösi Csoma Sándor auf der Suche nach der Urheimat der Ungarn, die Welt zu Fuß.
Der Arme sieht auf seiner Wanderschaft die Sehenswürdigkeiten einer Großstadt von einem ganz anderen Gesichtspunkt aus als der Inhaber einer Textilfabrik in Manchester. Kirchen, Museen, Denkmäler interessieren Arme kaum, wenn sie Sehenswürdigkeiten dieser Art überhaupt bemerken. Auch ihre Reisetechnik hat eine gewisse persönliche Note. Nur selten bestellen sie ihre Zimmer im Hotel im voraus. Sie lieben es, überraschend einzutreffen und sich ebenso zu entfernen. In fremden Städten interessieren sie sich vor allem für die sozialen Einrichtungen.
Jede Großstadt hat ihre Grand Hotels für Arme, wo nur sie absteigen dürfen und in die Reiche gar nicht eingelassen werden. Wie in sehr exklusiven Hotels, wo man nur auf eine Empfehlung hin Zimmer erhält, blickt man in den für Arme reservierten Unterkünften Fremde, die nicht die Uniform ihrer Klasse tragen und nicht über die entsprechenden Ausweise und Empfehlungen verfügen, mit Mißtrauen an. In den Nachtasylen und in den Schlafsälen der Heilsarmee achtet man peinlich darauf, daß ja kein Fremdling sich zwischen die Gäste verirre.
Für die Armen handelt es sich beim Reisen um einen Selbstzweck, und es scheint fast so, als wäre die Ankunft in ihrem Programm gar nicht vorgesehen. Der Zweck ihrer Reisen ist nie die Teilnahme an den Salzburger Festspielen oder an der Eröffnung einer Weltausstellung in Paris; der Zweck ihrer Reise ist es vor allem, unterwegs zu sein.
Zu den wandernden Armen gehören, als Unterabteilung, die von der Polizei unter dem Sammelnamen »Vagabunden« registrierten Menschen unruhigen Geistes. Über die Kunst des Vagabundierens haben Schriftsteller, die, nebenbei gesagt, die
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