Schule der Armen
die sie sich aus zusammengesparten Trinkgeldern gekauft hat; denn das Dienstmädchen weiß genau, daß ihr Besitz in den Augen der Herrschaft armselig erscheint; vielleicht sind Dienstmädchen auch deshalb zu einer melancholischen Gemütsstimmung und zum Selbstmord geneigt. Der Arme verbleibe seinem Dienstboten gegenüber der Herr und vermeide lieber jedes Gespräch.
Ungemein vereinfacht wird das Leben des Armen durch die Tatsache, daß er kein Geld hat; denn es ist bekannt, daß der Mensch, kaum im Besitz von Geld, sich sofort bemüht, seine erträumten Lebenswünsche zu verwirklichen, und solche Experimente komplizieren das Leben ganz ungemein. Der Arme hat es viel leichter, denn er vermag seine Wünsche dem Maßstab des Möglichen anzupassen und weiß immer ganz genau, was er tun soll, um glücklich zu sein. Er kann sich nur nach Situationen sehnen, die verwirklicht werden können. Geben wir ihm an dieser Stelle einige praktische Anweisungen: Der Arme tut recht, wenn er nach dem Beispiel der Reichen seine Bleibe von Zeit zu Zeit wechselt und umordnet. Ich zum Beispiel habe in Berlin jeden Monat mein Zimmer gewechselt.
Der Wechsel unterhielt mich, und nebenbei bereicherte ich auch meine Erfahrungen, denn als Untermieter hörte ich, worüber meine Hausherren im Nebenzimmer sprachen. Der Arme bleibt am zweckmäßigsten sein ganzes Leben lang Untermieter. Der Besitz, selbst der Besitz einer Wohnung, bedeutet eine lästige Bindung und Verantwortung. Wenn es nach mir ginge, so zöge ich am liebsten gleich morgen als Untermieter in meine eigene Wohnung und würde dann monatlich sechzig Pengö für alles bezahlen, wofür ich als Hauptmieter insgesamt viel mehr opfern muß. Als Hauptmieter ist der Arme in seiner Bewegungsfreiheit stark beschränkt, aber selbst dann tut er gut, dem Vorbild der Reichen zu folgen und seine Zimmer gelegentlich umzustellen. Die abgelebte und des Bewohners überdrüssig gewordene Wohnung ist überfüllt mit den stickigen Dämpfen unserer Sorgen und unseres Kummers; der Reiche ist sich dessen bewußt und läßt seine Zimmer von Zeit zu Zeit neu tapezieren oder die Leinwandbespannung in eine Seidenbespannung umtauschen. Er mustert den Louis-XVI-Salon aus und kauft sich statt dessen Möbel aus der Zeit Henri IV. Der Arme kann sich, wenn er Sinn für Wohnkultur besitzt, auch ganz gut amüsieren, indem er meinetwegen am Saisonanfang den Waschzuber aus der Küche in das Vorzimmer hinübernimmt, ein buntes Tuch darüberbreitet und ihn während des Sommers als Bank benutzt, oder er speist zur Abwechslung auf dem Schreibtisch und bügelt auf dem Eßzimmertisch.
Eine geschickte Hand, eine empfindsame Seele, Geschmack und Farbsinn können mit ein paar Griffen manches am Gewohnten ändern. Die aus dem Pfandhaus ausgelösten Eßbestecke und Kerzenhalter wirken auf unser tägliches Leben mit dem Zauber des Neuen und des Reichtums. Solche Kleinigkeiten kosten nichts, und der Arme fühlt dennoch, daß sich der bis zur Übelkeit gewohnte Rahmen seines täglichen Lebens verjüngt hat und er selbst in der neuen Umgebung mit mehr Mut und Freude glückhaften Veränderungen entgegengeht.
Auch die Bekleidung bietet zur Hebung der Lebensfreude so manche Möglichkeit. Gleich dem Reichen, der zu jeder Gelegenheit einen passenden Anzug wählt und sich beim Wechsel der Jahreszeiten geradezu verpflichtet fühlt, sich selber und seine Familie mit neuen Kleidern zu beschenken, so verfügt auch der Arme über Mittel und Wege, sich nach eigener Art zu verschönen und in seiner Bekleidung der Phantasie freien Lauf zu lassen.
Schon allein der gewendete Anzug vermittelt ein angenehmes Gefühl der Erneuerung; leider kann man ihn nur einmal wenden, und selbst diese bescheidene Umarbeitung kostet Geld. Es ist leicht, durch kleine Veränderungen den Wert der Garderobe zu heben. So ließ ich einmal, nach dem Beispiel des Prinzen von Wales, der sich stets individuell kleidete und als Diktator auf dem Gebiet der Mode galt, meine sämtlichen Taschen zunähen. Für mich war dies eine Neuheit, mein Anzug gewann eine persönliche Note, und ich fühlte mich weniger schäbig als vorher. Oft sehen wir, daß Arme mit einem sogar die Phantasie eines englischen Dandy in den Schatten stellenden Abwechslungsreichtum ihrer Bekleidung beim Rennen, bei offiziellen Empfängen, auf dem Stehplatz oder in der Oper zu glänzen suchen. Wir sehen besonders talentierte Arme, die zu einer grauen Hose und einer gelben Joppe eine rote Weste wählen, andere
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