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Schule der Armen

Schule der Armen

Titel: Schule der Armen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Arme kommen nie dazu, richtig nach Herzenslust einmal krank zu sein, vielmehr müssen sie sich damit begnügen, einen alten Fetzen um den Hals zu wickeln und zu sehen, wie sie damit weiterkommen; es reicht auch in der Krankheit gewissermaßen nur für eine Fahrt mit der Lokalbahn. Sie sind die tragischen Opfer der Armut …
    Wenn der Arme aber etwas Geld übrig hat, dann bereitet er sich mit großer Feierlichkeit und Wichtigtuerei auf die Krankheit vor. Er packt sozusagen ein, zieht sich zur Reise um und winkt, in seine Kissen zurückgelehnt, der versammelten Familie mit einem Lächeln Abschied zu, als blickte er aus dem Fenster des abfahrenden Zugs – hochmütig und überlegen.
    In meinen glücklicheren Jahren reiste ich selber viel; jetzt bin ich eher nur krank. Ich bereite mich auf das Kranksein geradezu mit Begeisterung vor, nehme von meinen Bekannten Abschied und packe meine Bücher und das sonst Notwendige mit der gleichen fieberhaften Erregung wie einst, wenn ich mich auf eine Reise nach dem Osten vorbereitete. Leider reicht es mir nicht immer für ein ausgiebiges Kranksein auf lange Distanz.
    Ich war also gezwungen, mich nach einem Reiseersatz umzusehen, denn nur schwer vermochte ich die Begleiterscheinung eines Umgebungs- und Zustandswechsels, diese subtile und edle Erregung, zu entbehren, dieses Trugbild, das den Armen vorübergehend vergessen läßt, daß Gott ihn ursprünglich nicht zu jenem Tölpel bestimmt hat, in den er sich mit der Zeit verwandelt hat. Ich lasse zum Beispiel in der Frühe meine Koffer vom Speicher herunterholen, überzeuge mich, ob sie noch eine Reise aushalten, studiere die an den Seiten aufgeklebten ausländischen Hotelzettel und packe dann sorgfältig und umständlich ein. Nachdem ich all dies erledigt habe, nehme ich in der Mitte meines in Unordnung geratenen Zimmers Platz und ziehe Bilanz. Meistens stimmt meine Rechnung nicht.
    Zur festgesetzten Zeit, zwanzig Minuten vor Abfahrt des Zuges, nehme ich gerührt Abschied von meiner Familie, lasse ein Taxi kommen und fahre in ein stilles Familienhotel, wo man mich schon erwartet; die Glocke ertönt. Hausdiener eilen herbei, das Gepäck wird auf mein Zimmer befördert, und während ich das Anmeldeformular ausfülle, bemüht sich der Portier um mich; dann schaue ich mir die in der Halle hängenden Theaterzettel an und erkundige mich beim Empfangschef, wie ich den Abend angenehm und lehrreich verbringen könnte. Er empfiehlt dann meistens eine Operette und verschafft mir, mit einem kleinen Zuschlag für den Vorverkauf, eine Theaterkarte. Später esse ich im Hotelrestaurant zu Abend, natürlich allein, und genieße dabei die aufmerksame Bedienung, wie sie einem zugereisten Fremden gebührt; der Oberkellner empfiehlt Nationalgerichte als Spezialitäten des Hauses, und ich beobachte lange und mit besonderer Aufmerksamkeit die sonderbare Spielart der Zigeunerkapelle. Hier schmeckt alles anders, das Brot, der Wein, die Gewürze, selbst die Zigarre.
    Die Abende verbringe ich im Theater, fahre im Taxi zurück ins Hotel, denn ich kenne mich ja in der Stadt nicht aus. Vom Fenster meines Zimmers beobachte ich noch die Lichter der fremden Großstadt, denke an meine zu Hause gelassenen Lieben und fühle mich so glückselig fremd, als wäre ich in Stockholm. So lebe ich einige Tage, dann lasse ich ein Taxi kommen und fahre wieder nach Hause.
    Diese kleinen Reisen sind billig und erfrischen mich für lange Zeit. Sie vermitteln mir die Selbstvergessenheit der Entfernung und der Fremde und bieten mir das seltsam erschreckende Gefühl der Einsamkeit und der Verlorenheit. Dabei lerne ich auch jedesmal etwas dazu. Meistens allerdings nur, daß es kein Entkommen gibt, am Ende blüht mir doch die Rückkehr in den Stall – denn ich bin ja ein Armer.
    In Wirklichkeit ist es manchmal teurer, von Pest nach Buda und zurück zu reisen, als von Buda nach London. Ich analysierte den Reiz der Erlebnisse einer Reise und kam zu dem Schluß, daß selbst ein so beschränkter Ortswechsel unnötig ist. Man kann nämlich reisen, auch ohne sich fortzubewegen, ohne Gepäck, Fahrkarte und Visum. In Paris, wo mich die Armut besonders plagte, suchte ich häufig einen der großen Bahnhöfe auf, löste eine Bahnsteigkarte und erkundigte mich ganz genau nach der Abfahrtszeit des Rom-Expreß; dann ging ich vor dem geheizten Zug auf und ab, kaufte Obst und Zeitungen, ließ meinen rechten Fuß auf dem untersten Trittbrett eines direkten Wagens nach Rom ruhen und gab mir den

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