Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schule der Armen

Schule der Armen

Titel: Schule der Armen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
Vom Netzwerk:
gebettet, in einer alles ausfüllenden großartigen Ruhe zwischen den farbstrotzenden Dekorationen seines Fieberwahns nach einem fernen, erschreckend anziehenden Weltteil, nach den wundersamen Gestaden des Todes schaukelnd getragen wird?
    Denken wir doch daran, wie gern sich die Armen ihrer glücklich überstandenen Krankheit erinnern! Ausführlich erzählen sie die Einzelheiten der Abfahrt, wie sie sich auf den Weg machten in die fremde exotische Welt der Krankheit, was sie sahen, was sie empfanden, wie die erste Station aussah, die Ankunft, der Abschied von zu Hause und von den Freunden, dann das wilde, heiße, fremdartige Klima und schließlich die Rückkehr … Ja, verreisen, immer ein wenig sterben – eine so mysteriöse Reise wiegt wohl das bißchen Sterben auf. Die meisten Armen erzählen mit der gleichen Begeisterung ihr Leben lang von einer überstandenen Diphtherieerkrankung wie von den unvergeßlichen Eindrücken einer Reise nach London.
    So reist der Arme ein- bis zweimal in seinem Leben. Was ist eigentlich eine Reise? Viel eher ein Fortgehen irgendwoher als eine Ankunft irgendwohin. Es handelt sich immer um das gleiche süße, schmerzhaft glückliche Erlebnis: etwas oder jemand, den man nicht mehr liebt, zu verlassen. Wie verwirrend, quälend, voller Lärm, Unruhe, fremder Stimmen und Gebräuche ist die Ankunft in einer neuen Welt oder bei einem neuen Menschen; ein beunruhigender Moment, den der Reisende mit halb geschlossenen Augen fiebrig über sich ergehen läßt, wobei er unnötig Geld vergeudet und in seiner Aufregung Trinkgelder verteilt!
    Ach, diese glückselige Befangenheit, die unsere Sinne im Augenblick der Abfahrt befällt, dieses Sich-Losreißen von allen Bindungen, die uns in bedauernswerte und einfältige Popanze verwandelt hatten; die Augenblicke der Abfahrt eines Zugs oder der Beginn einer Krankheit gehören zu den wenigen reinen und ungetrübten Freuden des Lebens. Die Krankheit schließt sich dem Armen als Reisebegleiterin an, und sofort verändert sich die graue Landschaft um ihn. Worauf er geschworen, was er versprochen hat, bindet ihn auf einmal nicht mehr, er ist frei, und nur das kleine Zubehör der Krankheit nimmt er auf seine Fahrt mit; die Bekannten verschwinden in der Ferne des Krankseins, neue Gesichter tauchen auf, und seine Worte verlieren ihre Verbindlichkeit.
    Und dabei ist es noch gar nicht sicher, ob er je zurückkehrt … Wie die sehr vornehmen Reisenden genießt auch er die Vorteile der Exterritorialität. Und dann das Abenteuer, das Abenteuer der Krankheit, das Jagderlebnis mit dem Messer, das glückselige Hindämmern in der Narkose, das vollkommene Selbstvergessen, welches der Arme wirklich nur auf dem Operationstisch durchlebt. Schon eine Halsentzündung wiegt im Leben eines Armen eine Wallfahrt auf, und eine Operation ist für ihn kein geringeres Erlebnis als eine Forschungsexpedition nach Afrika.
    Die moderne Seelenforschung neigt zu der Annahme, daß der Mensch nur dann erkrankt, wenn er vor den Verantwortungen des Lebens fliehen will. Wie der Gläubige ein heiliges Stigma, so bringt der Organismus eine Krankheit zutage, wenn wir vor den Folgen irgendeiner Handlung oder vor den Terminen dringlicher, aber unbequemer Entschlüsse fliehen wollen. Der kräftige, gesunde Mensch handelt; wie klein jedoch ist die Zahl der Kräftigen und Gesunden, die eines Tages ihren Hut lüften und vor der Verantwortung tatsächlich nach Amerika durchbrennen.
    In der überwiegenden Mehrzahl bleiben wir hier und lösen uns im kritischen Augenblick sozusagen eine Fahrkarte zur Flucht im Wert einer eitrigen Mandelentzündung. Für den Armen ist das Fieber von der gleichen Bedeutung wie für den Reichen eine Yacht oder ein Flugzeug, eine Dosis Chinin wie in Paris ein Diner mit auserwählten Delikatessen, und der Tod ist das große Abenteuer, aus dem kein Weg zurückführt und in dessen Dunkel der Wanderer verschwindet, ohne je wieder seinen Lieben eine Ansichtskarte nach Hause zu schreiben. Die Hinterbliebenen eines Armen denken nicht selten mit unklarem Groll an ein vorzeitig verstorbenes Familienmitglied, so als wäre es mit einem Schiff vor seinen Pflichten geflohen und schwämme nun in einer fremden Welt im Überfluß der Genüsse – schwelgte irgendwo im Tod …
    Aber so, wie er nicht über genügend Geld zum Reisen verfügt, so reicht es den meisten Armen auch für die Krankheit nicht. Denn in unserer Gesellschaft ist es fast ebenso kostspielig zu sterben – wie zu leben. Viele

Weitere Kostenlose Bücher