Schule der Armen
Grenzen ihrer Geburtsstadt meist nie verlassen haben, schon so viele schöne Bücher geschrieben, daß es mir überflüssig erscheint, im Rahmen meiner Ausführungen näher auf dieses Phänomen einzugehen. Dieses Thema ist bei den dilettantischen Intellektuellen, die ihre Erlebnisse in der Welt und nicht im Arbeitszimmer suchen, besonders zu Zeiten großer sozialer Umwälzungen sehr beliebt. Die richtigen Vagabunden verachten von ganzem Herzen die intellektuellen Vagabunden und meiden sie geflissentlich.
Der Intellektuelle reist mit Zahnbürste, Kölnisch Wasser und einer französischen Anthologie in der Handtasche und ist auf Erlebnisse in der Welt aus; der richtige Vagabund wandert ohne Buch oder Parfüm und sucht in fremden Städten nicht so sehr Erlebnisse, als vielmehr Zigarettenstummel auf dem Trottoir, Bargeld, warmes Essen und Unterkunft irgendwelcher Art für die Nacht. Der Dilettant beruft sich vage auf die ungebundene Freude des Vagabundierens, rechtfertigt mit kraftloser Motivierung den Wandertrieb und idealisiert mit anarchistischen Theorien die einfache Tatsache, daß er kein Sitzfleisch hat, weder arbeiten kann noch will, kurzum, daß er ein Vagabund ist. Der wahre Vagabund motiviert nie. Seine Reisekleidung ist originell und primitiv.
Ich lernte in Frankfurt a. M. einen Vagabunden kennen, der, nur mit einem wasserdichten Regenmantel bekleidet, ganz Europa durchwandert hatte und der nach gegenseitiger Vorstellung aus den Taschen seines vom Wetter hergenommenen Mantels folgende Gegenstände ans Tageslicht beförderte: zweieinhalb Meter Schifferschnur, einen deutschen Schmöker mit dem Titel »Quannon von Okadera«, eine fertig gebundene Frackkrawatte, eine zusammenlegbare Säge, drei Taschentücher, in Zeitungspapier eingewickelte Hustenbonbons und das aus einer französischen illustrierten Zeitschrift herausgeschnittene Bild der heiligen Therese von Lisieux, an deren anmutigem Antlitz er Gefallen gefunden hatte. Im Besitz dieses bescheidenen Inventars durchwanderte er die halbe Welt, schlief immer nur in Gasthäusern, aß in Wirtschaften, machte einen durchaus gepflegten Eindruck, und sein bescheidenes, jedoch sicheres Auftreten erinnerte an einen Menschen, der sein Gepäck auf dem Bahnhof in der Aufbewahrung gelassen hat, um sich die fremde Stadt ein wenig anzusehen.
Die Literatur ist voll von den Bekenntnissen der Pseudovagabunden. Literatur dieser Art betrachtet die richtigen Vagabunden als rufschädigend. Das Vagabundieren ist ein Handwerk wie das des Meerschaumpfeifenschnitzers, der fünfzig Jahre lang in derselben Stadt ansässig ist, nur gehört mehr Tüchtigkeit und Fachkenntnis dazu. Wer, wie der Autor dieser Abhandlung, viel mit Vagabunden zu tun hatte, wird bemerkt haben, daß die richtigen Vagabunden im allgemeinen einen zerstreuten Eindruck hinterlassen. Sie hören unseren Worten nur mit halbem Ohr zu, reichen einem in der Mitte eines Satzes die Hand und verschwinden, im Gehen halten sie den Blick aufs Trottoir gerichtet, als suchten sie etwas. Dichter behaupten, sie suchten ihr verlorenes Glück.
Die weitaus am meisten verbreitete Form des Reisens bei den Armen ist das Kranksein. Dies hat schon Charles Louis Philipp festgestellt, der auf andere Art nie eine Reise unternommen hat. Wenn uns eine Reise soviel bedeuten kann wie ein großes heidnisches Fest, dann kann die Krankheit von ähnlich reichen Erlebnissen angefüllt sein wie ein gelungener Ausflug zwischen zwei Fjorden. Beide Unternehmungen befreien uns für längere oder kürzere Zeit von den Pflichten, deren wir überdrüssig geworden sind, von der drückenden Verantwortung unserer Familie gegenüber.
Der Kranke wird, gleich dem Reisenden, zu einem außerhalb der Gesellschaft stehenden Wesen, er schuldet seiner zurückgelassenen Gesellschaft keine Verantwortung mehr, er schwebt im Halbschlaf mit angeregten und gleichzeitig angenehm betäubten Sinnen in einer fremden Atmosphäre, wo er für nichts verantwortlich ist und in der man ihn zu nichts verpflichten kann – dabei umgibt man ihn mit höflicher Sorge, denn der Kranke hat in der Familie nun die Rolle eines vornehmen Fremden eingenommen.
Gibt es für den Armen in der Tat einen schöneren Zustand als eine gelungene, ohne ernste Folgen ablaufende, zarte und angenehme dreiwöchige Krankheit? Gibt es eine schönere Reise als eine Blinddarmentzündung, wenn der Arme Urlaub erhält vom Leben, sich nicht mehr um den täglichen Existenzkampf zu kümmern braucht und, auf Kissen
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