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Schule der Armen

Schule der Armen

Titel: Schule der Armen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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wichtigtuerischen Anschein, als wäre ich ein Reisender, der dem Fahrplan nicht vertraut und schon eine halbe Stunde vor der Abfahrtszeit sein Gepäck im Abteil in der Fahrtrichtung, möglichst in einem Raucherabteil, unterbringt und nun die sich drängenden Spätkommenden überlegen und mit Schadenfreude beobachtet, die Messingstange am Eingang des Wagens mit der behandschuhten Rechten aus Vorsicht umspannt, damit der Zug nicht in einem unbeachteten Moment vor seiner Nase davonfährt. Im Augenblick der Abfahrt ließ ich dann die Stange los und verwandelte mich zur größten Überraschung meiner Umgebung von einem Reisenden in einen Begleiter und winkte dem unbekannten und unsichtbaren Entschwindenden Abschied zu.
    So gelang es mir manchmal, mich zu trösten. »Morgen früh wäre ich in Rom« – überlegte ich erleichtert, verließ den Bahnhof, ging in eine nahegelegene Kneipe, entspannte meine von den Ereignissen der letzten halben Stunde erregten Nerven und dachte mit Zufriedenheit daran, daß ich heute abend zu Hause in meinem sauberen Bett ruhen würde, statt die Nacht auf der Holzbank eines schmutzigen, übelriechenden Abteils dritter Klasse zu verbringen.
    Ich muß die gebildeteren und vermögenden Leser um Nachsicht bitten für derart primitive Ratschläge, die in den Augen von Menschen mit Geld vielleicht als Ausgeburt einer krankhaften Phantasie erscheinen; der Arme jedoch sammelt seine Erfahrungen wie ein Kind, das aus Seidenpapier allerlei Figuren schnipselt, stundenlang still damit spielt und glaubt, dies sei die Welt. Der Arme spielt mit der Welt, wann immer er kann und wo es ihn am wenigsten kostet.
    Zum Beispiel in den Reisebüros. Wie oft habe ich mittags in Paris, zur Zeit des lebhaftesten Verkehrs, das Reisebüro von Cook an der Ecke der Rue Royale betreten und einen der intelligenter aussehenden englischen Angestellten eindringlich nach seiner Ansicht befragt, wohin ich mich vor den nebligen Wintermonaten flüchten könne. Noch heute gedenke ich mit Dankbarkeit dieser wohlerzogenen und unermüdlichen Angestellten bei Cook. Bequem über die mit Plänen bedeckten Tische gelehnt, standen sich hier nicht Angestellter und Kunde gegenüber, sondern eher zwei zum Zeitvertreib plaudernde Gentlemen; wir besprachen die Gegend, das Klima, blätterten lang und länger in den bunt illustrierten Reklameheftchen der Hotels, kehrten von Sizilien nach Korsika zurück, rechneten, addierten, notierten die Abfahrtszeiten der Züge; ich erhielt Auskünfte über Devisenfragen, einige nette Fingerzeige belehrten mich über die Sehenswürdigkeiten eines Ortes, und am Ende, meine Taschen voll mit Auskünften und Entwürfen, drückten wir uns die Hände und kamen überein, daß ich noch rechtzeitig wegen der Fahrkarten anrufen würde …
    Meine Sinne waren erfüllt vom Blendwerk der weiten Welt, von Städtenamen, phantastischen Hoteladressen, vor meinen Augen flimmerte das azurblaue Meer der Reklameschriften, Seemöwen strichen über palmenbewachsene Ufer, als ich dieses lobenswerte Büro verließ und, mit reichlichem Material für eine Reise nach Sizilien versehen, durch die nebligen, winterlichen Straßen von Paris nach Hause wandelte. Das Subtilste, was uns eine Reise schenken kann, den Duft und die Betäubung der Fremde, erlebte ich in einer halben Stunde im Büro Cook, während der liebenswürdige Angestellte mich über den Unterschied in den Hotelverhältnissen Korsikas und Sardiniens belehrte. Ich wußte nun, wann das beste Schiff Livorno verläßt und wieviel ein Kabinenticket zweiter Klasse kostet, das den Reisenden auch berechtigt, sich tagsüber an Deck der ersten Klasse aufzuhalten.
    Im Besitz dieses bemerkenswerten Erlebnisses wäre es geradezu leichtsinnig gewesen, tatsächlich nach Korsika oder Sizilien zu reisen und die ganze Reihe von Unbequemlichkeiten auf mich zu nehmen, die sich für den mit geringen Mitteln Reisenden unweigerlich ergeben. Meine schönsten, ungetrübtesten Reiseerinnerungen verknüpfen sich mit dem Pariser Büro Cook, wo ich periodisch je nach Jahreszeit einkehrte, wo man mich gut kannte und, wie es sich bei treuen Kunden geziemt, mit bevorzugtem Entgegenkommen und großer Geduld behandelte.
    Mit wenig Geld lohnt es sich tatsächlich nicht, weit zu reisen, und wer die Welt mit dem Gefühl wirklicher Verinnerlichung zu sehen vermag, der entdeckt das Geheimnis der Fremde und des Auslands genauso in Szolnok wie in Kalkutta.
    Eines Tages kam ich, von plötzlicher Reiselust getrieben, auf

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