Schule der Lüfte wolkenreiter1
Wilhelm von Oc ihr Leben schon überschattet, seit sie sechzehn war. Damals hatte der Konflikt zwischen ihnen begonnen. Sie war sehr verwirrt gewesen, weil sie nicht verstanden hatte, was er gegen die Vertrautheit zwischen ihr und seinem Vater einzuwenden gehabt hatte, und war von seiner abweisenden Haltung so verletzt gewesen, wie es nur ein junges Mädchen sein kann. Friedrich hatte ihr jedoch ihren Schmerz und ihre Verwirrung genommen, als er sie an Wintersonne gebunden hatte. Doch jetzt wurde Friedrich immer schwächer und Wilhelm immer stärker. Philippa spürte, dass er etwas im Schilde führte, sie wusste nur nicht, was es war. Sie konnte nur hoffen,
dass wenigstens der Rat der Edlen ihn zur Vernunft bringen würde.
Sie bedeutete Elisabeth, die Klasse zurückzuführen. Soni flog Quadrate, während sie ihnen bei der Landung zusah. Es waren erfahrene Reiterinnen, die mit ihren geschickten Pferden tief über die Baumwipfel hinwegflogen und behände im weichen Gras landeten. Die Nachmittagssonne ließ die weißen Ställe, die Dachziegel des Wohnhauses und der Halle leuchten und tauchte die Blätter der Buchen entlang der Allee in herbstliches Gold.
Impulsiv legte Philippa die Zügel an Sonis Hals und verlagerte ihr Gewicht. Von den Quadraten befreit, schwenkte die Stute nach rechts ab und senkte mit einem kräftigen Schlag die Flügel. Selbst für eine Zweiflerin wie Philippa war ein solcher Moment voller Magie, Kallas Magie, die weder Fetisch noch Symbol, weder Zauberspruch noch Zaubertrank benötigte. In einem solchen Augenblick schienen Soni und ihr der ganze Himmel zu gehören.
Eine Stunde, überlegte Philippa. Sie würde sich und Soni erlauben, eine Stunde über die Berge zu fliegen. Eine Stunde lang würde sie nicht an Prinz denken, sich nicht um Margret sorgen, sich nicht über die Schwierigkeiten mit ihren Kolleginnen ärgern oder über Larkyn Hammloh und ihr Bastard-Fohlen grübeln. Sie lockerte die Zügel und genoss die vollkommene Einheit, die zwischen gebundenen Paaren aus Mensch und Pferd herrschte.
Soni drehte Richtung Westen ab. Die Muskeln ihrer Flügel traten hervor, ihre Mähne wehte über Philippas behandschuhte Hände. In diesem Augenblick fühlte sich Philippa wieder als Schülerin, die sich um nichts kümmern musste, außer um ihr Flugdiplom und die Stärke ihres Pferdes. Damals erschien ihr die Zukunft so vielversprechend
und fruchtbar wie die Landschaft, die jetzt unter ihr vorbeizog.
Sie flogen über frisch gemähte Felder hinweg, über Gruppen von Arbeitern, welche die Ernte einfuhren, über verschlungene Wege, die von Bäumen mit flammendroten Blättern gesäumt waren. Für Philippa war der Sattel ebenso ein Teil von ihr wie ihre Stiefel, und der Wind in ihrem Gesicht war so süß wie Parfüm.
Eine Viertelstunde lang flog Soni Richtung Westen, dann nahm sie Kurs gen Norden. Zwischen ihrer Flugstrecke und Oscham lag im Osten der Fürstenpalast. Als Philippa über ihre rechte Schulter blickte, sah sie, wie sich von den smaragdgrünen Weiden zwei fliegende Pferde erhoben und Kurs auf die Weiße Stadt nahmen. Im Gegenlicht der Sonne waren die Pferdemeisterinnen kleine schwarze Flecken. Vielleicht waren es Boten. Sie hatte es geliebt, für Fürst Friedrich zu fliegen und am wachsenden Wohlstand des Fürstentums mitzuwirken. Wie selbstzufrieden ihr Bruder Mersin gewesen war, weil er glaubte, die Stellung der Familie gestärkt zu haben, als er sie zur Flugakademie schickte! Friedrich hatte ihr die geheimsten Botschaften und Aufgaben anvertraut. Dass Philippa ihrem Bruder nichts davon erzählt und sich zudem geweigert hatte, auf ihn zu hören, hatte Mersin vollkommen gegen sie aufgebracht. Die Kluft zwischen Philippa und ihrem Bruder war mittlerweile so groß, dass sie nicht wusste, ob sie sie jemals wieder überbrücken konnten.
Philippa steuerte Soni nach links, um in einem großen Bogen zurück zur Akademie zu fliegen. Sie blickte noch einmal hinab und erkannte die weitläufigen, flachen Umrisse von Fleckham, Wilhelms Privatresidenz. Sie stellte sich vor, dass sie heute dort unten als Wilhelms Frau leben
könnte, an die Erde gebunden und in einer Rolle gefangen, die sie mit Sicherheit gehasst hätte. Bei diesem Gedanken empfand sie Mitgefühl für die arme Frau, die irgendwann ein solches Leben würde führen müssen, und genoss ihre Freiheit aufs Neue.
Sie sah, dass das Anwesen seit ihrem letzten Besuch um einen Stall im Westen erweitert worden war, der vom Haus und der Straße durch
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